: Die Wiederauferstehung der Nato
Im Kampf gegen afghanische Drogenbarone, in Nahost und im Irak: Überall soll es künftig Probleme lösen – das „neue“ transatlantische Bündnis
AUS MÜNCHEN PATRIK SCHWARZ
Und wer ist dieses Jahr der Star der Konferenz? 2003 war die Entscheidung einfach genug. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hatte die letzte Münchner Sicherheitskonferenz vor dem Irakkrieg eröffnet, als sein Hohn über das „alte Europa“ den Teilnehmern noch frisch in den Ohren klang, doch im Saal des Hotels „Bayerischer Hof“ erregte kein Redner die Gemüter so wie Joschka Fischer. „I am not convinced!“ schleuderte er Rumsfeld auf dem Höhepunkt einer zunehmend frei und zunehmend emotional geschwungenen Rede entgegen, er sei einfach nicht überzeugt von den Kriegsgründen der USA. Der Pentagon-Chef, nur durch ein Blumenbouquet von Fischer getrennt, rieb sich ob so viel Ungestüms die Nase. „I am not convinced!“ wurde einer der Sätze des Jahres, und die traditionsreiche einstige „Wehrkundetagung“ hatte ihren Helden und ihr Enfant terrible in einer Person.
Und diesmal? Es dauerte bis gegen Ende des zweiten Tages, ehe so etwas wie ein Star wenigstens in Umrissen erkennbar wurde; zu viel Harmoniehonig kleisterte das erste Münchner Nachkriegstreffen zu. Bis es so weit war, hatte Donald Rumsfeld einmal die Nato rauf- und runtergelobt. Hatte der neue Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer aus Holland der Allianz bescheinigt, Frieden zu schaffen mit ihrer ganz eigenen Form eines „Multilateralismus mit Zähnen“. Hatte der russische Verteidigungsminister Sergei Iwanow eine Rolle für die Nato im Kampf gegen afghanische Drogenbarone an der unsicheren Südgrenze Russlands vorgeschlagen. Hatte Joschka Fischer die Nato auserkoren, in seiner in München überraschend vorgestellten Friedensinitiative für den Mittelmeerraum eine Hauptrolle zu spielen. Und für alle, die den neuen Star am Himmel über dem Atlantik bis dahin immer noch nicht bemerkt hatten, brachte ihn schließlich Frankreichs Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie auf einen Begriff: „die neue Nato“.
Nun ist „das Bündnis“, wie die Organisation in den Mauern des Tagungshotels nur genannt wird, als Neuentdeckung in der Tat ein Überraschungskandidat. Die 55-jährige Institution ist schließlich ein Oldie des Militärgeschäfts diesseits und jenseits des Atlantiks.
So gehört die Nato für ihre Freunde im „Bayerischen Hof“ ebenso unverzichtbar zum Inventar der westlichen Welt wie für die alljährlich anreisenden Konferenzgegner, die vor den Absperrgittern der Polizei gegen eine Politik der Kriege ohne Ende protestieren. Neu und bemerkenswert war jedoch das Zutrauen, mit dem Redner diesmal der Nato alle möglichen Aufgaben antrugen, die weit über ihre bisherige Missionen hinausgehen. Die USA sehen das Bündnis nach ihren höchst gemischten Erfahrungen im Irak als Chance, die Lasten auf mehr Schultern zu verteilen. Iwanows Vorschlag der Drogenhändlerjagd wiederum war kaum weniger exotisch als Joschka Fischers Idee, die Modernisierung der islamischen Gesellschaften des Nahen Ostens von EU und Nato gemeinsam voranbringen zu lassen.
Dabei ist es noch nicht lange her – Verteidigungsminister Peter Struck erinnerte in seiner Rede daran –, dass Podien zur Zukunft der Nato meist den Titel trugen: „Hat die Nato eine Zukunft?“ Schließlich hatte die mächtigste Militärorganisation des Westens die längste Zeit ihrer Geschichte damit zugebracht, virtuelle Abwehrschlachten gegen einen kommunistischen Expansionismus zu planen, der dann völlig friedlich verschied.
Seit dem 11. September nun ist an neuen Feinden kein Mangel mehr, an Aufträgen für die Nato auch nicht, denn kaum ein Mandat von internationaler Bedeutung gilt heute noch als so ungefährlich, dass zu seiner Durchführung auf Militärbegleitung verzichtet wird. Was die Debatte von 2004 jedoch unterscheidet von den ersten Jahren nach den Terrorangriffen von 2001 ist die Anziehung, welche die Allianz auf Politvisionäre zu entfalten vermag.
Am deutlichsten wurde das bei Fischers Nahost/Mittelmeer-Vorschlag. Obwohl der Grüne klassische Ziele einer multilateralen, zivil orientierten Außenpolitik benannte bis hin zur Vollendung der Gleichberechtigung von Mann und Frau in allen Staaten des Nahen Ostens, stützte er seine Initiative auf zwei Institutionen mit militärischen Kapazitäten, die EU und eben die Nato. Es bedurfte erst der Nachfrage des deutschen UNO-Botschafters Gunter Pleuger, der im Publikum saß, bis der Minister pflichtschuldig die Vereinten Nationen in die Reihe relevanter Akteure aufnahm. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) blieb bei Fischer restlos unerwähnt, obwohl ihr Vorsitzender auf einem späteren Podium vertreten war.
Der grüne Außenminister rechtfertigt sein neues Zutrauen in die Nato mit ihrer Doppelrolle als effektiver Militärinstitution und als einzigem transatlantischem Forum, bei dem die USA mit den Europäern an einem Tisch sitzen. Ebenso wichtig dürfte jedoch eine Erkenntnis aus den so unterschiedlich verlaufenden Konflikten in Afghanistan und Irak sein: Selbst wenn die Bundesregierung im einen Fall für und im anderen gegen eine militärische Beteiligung war, so kann sie sich seit beiden Kriegen eines nicht mehr vorstellen: Vorschläge zu einer Verbesserung der Welt zu machen, die nicht von einer militärischen Komponente begleitet werden.
Kritiker können darin eine weitere Militarisierung der Außenpolitik sehen, Sympathisanten dagegen die Einsicht der Regierung Schröder/Fischer erkennen, dass die Welt ein gefährlicherer Ort ist, als sie in roten und grünen Grundsatzprogrammen einst erschien. Klar ist nur, dass auch die deutschen Freunde der Nato in Schwierigkeiten geraten, sobald konkrete Gefahren drohen. Das jüngste Beispiel hierfür ist gerade der Irak.
Donald Rumsfeld warb in München unverhohlen für einen Nato-Einsatz, sobald eine freie irakische Regierung amtiert. Struck wie Fischer wiederholten dagegen ihr Irak-Mantra: Berlin werde sich zwar einem Nato-Engagement nicht in den Weg stellen, aber auf keinen Fall deutsche Soldaten dafür bereitstellen. Fischer fürchtet, die Nato könnte sich im Irak überheben – zu ihrem eigenen Schaden. Bill Clintons einstiger Verteidigungsminister William Cohen hatte dafür nur Spott übrig: Fischer wolle mit seiner Initiative Frieden und Stabilität im Nahen Osten schaffen, aber ausgerechnet in das instabilste Land, den Irak, keine Soldaten schicken.