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Archiv-Artikel

Die Nachteile des Lasters

Hartmut Fischer wollte mit „Juliettes Literatursalon“ einen Ort literarischer Libertinage verwirklichen. Das elitäre Image seiner Buchhandlung erwies sich jedoch mit der allgemeinen Buchhandelskrise als Irrtum. Jetzt kann er nur noch auf Wunder warten

von JÖRG MAGENAU

Sterbende Buchhandlungen sind traurige Orte. Zwischen den Buchresten wachsen die Leerstellen als bedrohliche Ankündigung des Verschwindens. Die Kunden fliehen vor diesen Stätten der Depression und kehren erst wieder, wenn alles zu spät ist: als Schnäppchenjäger und Leichenfledderer.

Hartmut Fischer, Gründer und Inhaber von „Juliettes Literatursalon“ in der Gormannstraße, hält dort die Stellung und wartet auf ein Wunder. Das Wunder könnte eintreten in Gestalt eines Mäzens, eines großzügigen Sponsors oder eines Käufers. Er führe Gespräche, sagt Fischer, und erwähnt einen Berliner Galeristen. Weil er die Rechnungen der Grossisten nicht mehr bezahlen konnte und keine Bücher mehr geliefert bekommt, ist ihm einstweilen jedoch nur ein Besuch gewiss: der des Insolvenzverwalters, der sich für Mitte April angekündigt hat. Nach knapp sechs Jahren sind damit die letzten 120 Tage von „Juliettes Literatursalon“ angebrochen, der wohl einzigen Buchhandlung mit integrierter Guillotine und fortgesetztem De-Sade-Lesemarathon.

Hartmut Fischer kam 1997 aus Tübingen, um in der Hauptstadt seine Traumbuchhandlung als Ort literarischer Libertinage zu verwirklichen. Nach der Buchhandelslehre hatte er Philosophie und Religionswissenschaften studiert, um sich auf den Handel mit Ideen und Theorien gebührend vorzubereiten. Es war die Zeit des Aufbruchs, als in Berlin alles möglich schien, und so sollte die Buchhandlung viel mehr sein als nur eine Verkaufsstelle. Fischer organisierte Ausstellungen und Konzerte, Lesungen, Vorträge und Performances und beherbergte gelegentlich einen psychotherapeutischen Gesprächskreis.

„Die Erfindung des Verschwindens“ heißt ein Text von Peter Brasch, der 1999 in „Juliettes Literatursalon“ entstand. Brasch hatte für eine Woche sein Arbeitszimmer in den Nebenraum der Buchhandlung verlegt und schrieb und malte öffentlich hinterm Schaufenster. Ein Jahr zuvor hatte sich der Schauspieler Peer Martiny neun Tage und neun Nächte lang dort aufgehalten, um Michel de Montaignes „Essais“ vorzutragen. Die Kunst als soziales Experiment – auch dafür steht „Juliettes Literatursalon“. Schirmherr und inoffizieller Namenspatron ist der Marquis de Sade. Die Guillotine zwischen den Regalen ist ja nicht nur ein Symbol der Revolution, sondern auch Instrument sadomasochistischer Erregungsproduktion. 1998 begann Hartmut Fischer im vierzehntägigen Turnus, de Sades Sadomaso-Standardwerk „Justine und Juliette“ durchzuackern.

Blixa Bargeld, Katharina Thalbach und Thomas Brasch gehörten zu den ersten Lesern, Friedrich Kittler, Angela Winkler, Rosa von Praunheim, Thomas Kapielski und viele andere folgten. Jede Seite des zehnbändigen pornografischen Martyriums sollte ausgekostet werden, um mit diesem Exerzitium aus Blut und Sperma und Fäkalien zum kulturellen Distinktionsgewinn beizutragen. So entstand eine sublime Gemeinschaft der Sublimierung, ein elitärer Zirkel des schlechten Geschmacks, eine revolutionäre Runde der Vorurteilslosigkeit als Notgemeinschaft der stecken gebliebenen Aufklärung.

Das elitäre Image der Buchhandlung, in der neben Claus Peymann und Hermann Beil vor allem Akademiker ihre Bücher erwerben, hat jedoch den Nachteil, dass sich andere Leute manchmal gar nicht hineintrauen. Sie glauben, um hier Bücher zu kaufen, müsse man wenigstens ein Hochschuldiplom vorweisen. Das stimmt zwar nicht, richtig ist aber, dass kaum jemand auf die Idee käme, hier einen profanen Reiseführer oder Dieter Bohlens Erinnerungen zu bestellen.

Hartmut Fischer setzte darauf, dass Kreativität und Wissen auch ohne Kommerzkompromisse ökonomisch tragbar sein können. Das erwies sich spätestens mit der allgemeinen Buchhandelskrise im Jahr 2002 als Irrtum. Jetzt ist er der Meinung, so viel in das geistige Potenzial Berlins investiert zu haben, dass die Stadt ihm nun etwas zurückzahlen und Geist dankbar mit Geld vergelten könnte. Und so wartet er darauf, dass sich vielleicht doch noch ein Mäzen meldet – auch wenn die wundersame Rettung eine Pointe wäre, die nicht zu de Sade passen würde.