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Archiv-Artikel

Zeitensprung in den weißen Dörfern

Zeit hat eine andere Dimension in den Alpujarras, den südlichen Ausläufern der Sierra Nevada. Doch auch hier will keiner mehr das Land bepflanzen, der Bauer wird zum Exoten. Der Tourismus hat Wohlstand, neue Perspektiven und neue Berufe gebracht

„Der Tourismus hat hier viel kaputtgemacht, aber dennoch ist es besser als früher“

von ULRIKE FOKKEN

Die gedrehte Zigarette ist dick wie ein Schilfgrasrohr. Enrique Padilla hat sie fest in den linken Mundwinkel geklemmt und zutzelt darauf herum. Sie ist längst erloschen, aber dem von zerlaufenem Nikotin bräunlich glänzenden Stumpen entströmt noch immer ein Geruch von verbranntem Stroh. „Den Tabak habe ich selbst gemacht“, sagt Enrique Padilla aus dem rechten Mundwinkel, und seine listigen Augen funkeln, wenn er mit erdigen Händen durch das blonde Gemisch aus Tabakstengeln in dem Lederbeutel fährt, den er aus der Jackentasche geholt hat. „Da oben“, sagt er und seine schwielige Hand zeigt den Berg hinauf, der sich steil und dicht bewuchert vor ihm erhebt. Der Weg ist voll Geröll, und Padilla hat noch eine halbe Stunde vor sich bis zum Cortijo, seinem Gehöft, wo er die drei Kühe, die Ziegen und auch ein paar Hühner hält. Für sie hat Enrique Klee auf der anderen Seite des Tals in der Nähe des Dorfs Bubión geschnitten und ihn mit dem Heu und den getrockneten Maiskolben aus seiner Vorratskammer in die Basttaschen, die zu beiden Seiten an dem Maulesel hängen, gestopft.

Drei-, viermal die Woche zieht Enrique schwer bepackt mit seinem Maulesel den Weg aus Bubión zum Rio Poqueira hinab, steigt dabei über Geröll und Felsbrocken, überquert gurgelnde Bäche und Bewässerungsrinnen aus der Zeit der maurischen Herrscher, wandert am Fuße des Tals schließlich über die Brücke und müht sich dann den steilen Osthang des Poqueira-Tals wieder hinauf.

Seit 50 Jahren, vielleicht auch schon seit 60 Jahren. Enrique weiß das nicht so genau, Zeit hat eine andere Dimension in den Alpujarras, den südlichen Ausläufern der Sierra Nevada. Als kleiner Junge hat er auf dem Cortijo gelebt, unter den Kastanienbäumen, die hoch wie eine Kathedrale ihre Krone ausbreiten und dem Gehöft Schatten spenden. Enrique kennt die Walnussbäume in den wilden Hainen und weiß, wo er an die saftigen Früchte der Maulbeerbäume kommt. Er weiß, wie er das Getreide auf einer der gepflasterten Terrassen drischt, die wie Adlerhorste aus dem Berg hervorlugen. Er weiß, wann der Mond am besten steht, um zu säen. Und er weiß, dass er der letzte Bauer in Bubión ist, nachdem Antonio zu gebrechlich für die Arbeit auf den Terrassen wurde und Paco sein Wissen durch Alzheimer verloren hat.

322 Menschen leben in Bubión. Und sie leben gut, seit ihr Dorf als pittoresker Ferienort entdeckt wurde. Aus Madrid, Sevilla, Granada und aus dem Baskenland kommen Touristen, um das Leben in den jahrhundertelang von Spanien abgeschnittenen Alpujarras kennen zu lernen. Seit knapp fünfzig Jahren erst führt eine Straße in die Dörfer an den südlichen Berghängen der Sierra Nevada. Ende der Fünfzigerjahre gab es auch endlich Strom in den öffentlichen Gebäuden und irgendwann auch in den Häusern der meisten Dorfbewohner. Auf Wasser- und Abwasserleitungen in einer der wasserreichsten Regionen Andalusiens mussten die Menschen hier noch länger warten.

Heute gelten die Alpujarras als authentisch, als eine Stätte der sagenhaften Kultur von al-Andalus, dem untergegangen Reich der Mauren in Europa. Denn in die Alpujarras hatte sich 1492 Boabdil, der letzte maurische Herrscher von Granada, nach dem Fall der Stadt an die katholischen Könige zurückgezogen. In den abgeschiedenen Tälern und auf den Höhen der Alpujarras fanden die muslimischen Verfolgten eine letzte Zuflucht vor der Inquisition, bis sie um 1600 endgültig aus Spanien vertrieben wurden. Sie hinterließen ein ausgeklügeltes System von Kanälen und Rinnen, die noch die abgelegenste Terrasse zum Anbau von Getreide, Obst und Gemüse bewässern. Sie bauten Moscheen, aus denen die katholischen Nachfolger Kirchen machten, deren Grundrisse und Glockentürme aber auch im 21. Jahrhundert den Ursprung erkennen lassen.

Jahrhunderte vergingen, und die Bewohner der Alpujarras blieben sich selbst überlassen. Selten kam ein Fischer vom nahen Mittelmeer in die Berge, um seinen Fang zu verkaufen, selten schickte die Regierung Beamte, um das Leben dort oben zu regeln, und erst unter der Diktatur von General Franco entschied Madrid, den Alpujarras Schulen, Straßen und Kraftwerke zu bescheren. Heutzutage kommen die Fremden in Bussen. Und sie kommen nicht nur aus Spanien, sondern aus „Europa“, wie die Länder nördlich der Pyrenäen im Süden Spaniens heißen, aus den USA, aus Australien und aus Japan, um in den wilden Bergen zu wandern und die Gipfel des Mulhacén (3.482 Meter) und des Veleta (3.398 Meter) zu besteigen.

„Es geht uns besser“, sagt Pepa Noguera. Als sie mit 31 Jahren und zwei kleinen Töchtern in den Achtzigerjahren Witwe geworden war, musste sie selbst für ihre Familie sorgen. Da traf es sich gut, dass mehr und mehr Touristen ins Dorf kamen. Drei Zimmer hat sie vermietet und ihre Töchter, ihre Mutter und ihren unverheirateten Bruder von dem Geld ernährt. Mit 38 Jahren hat sie auf den kurvigen Straßen der Alpujarras ihren Führerschein gemacht und sich dann ein Auto gekauft, um ihre Töchter auf die höhere Schule in die Stadt Órgiva bringen zu können. Heute gehören ihr mehrere Häuser und Apartments, und in Bubión gilt sie als reichste Frau des Dorfs. „Es hat sich viel verändert, aber uns geht es besser“, sagt Pepa in dem harten Tonfall der Alpujarras. Der mit dem Tourismus gekommene Wohlstand hat das Dorf verändert, ebenso wie Capileira und Pampaneira, die anderen Dörfer im Tal des Poqueira. Neben den jahrhundertealten Häusern stehen Apartmenthausanlagen im Stil der Region. Restaurants, Kneipen und Supermärkte versorgen Touristen und Einheimische, dreimal am Tag verbindet ein klimatisierter Bus die Dörfer mit Granada. „Sie haben viel kaputtgemacht, aber es ist besser als früher“, pflichtet Angeles ihr bei.

Die meisten ihrer Klienten für die Ferienwohnungen bekommt sie über das Internet. Ihr ältester Sohn soll ihr möglichst bald eine eigene Homepage bauen, dann braucht sie keine Prozente mehr an die Organisation zu zahlen, die ihr bislang die Mieter schickt. Da die Generation von Pepa und Angeles endlich Geld verdient und sich nicht wie in früheren Zeiten von den Früchten der Landwirtschaft ernähren muss, können ihre Kinder studieren oder moderne Berufe in den Städten erlernen.

Und sie haben damit eine Chance, in ihre Dörfer zurückzukehren und dort in ihrem Beruf zu arbeiten. Der Zahnarzt praktiziert dann im Haus der Eltern, die Lehrerin unterrichtet in der Dorfschule, die Pharmazeutin übernimmt die Apotheke und der Literaturwissenschaftler den Laden mit den Flickenteppichen und der Keramik. Nur ein Beruf geht in den Alpujarras verloren: der des Bauern. Denn die Jungen arbeiten nicht auf den Feldern, auch wenn sie nicht studiert haben. Sie finden Arbeit auf dem Bau oder in einer Bar.

Dem Land bekommt die späte Modernisierung der Alpujarras nicht gut. Denn die jahrhundertelang gepflegten Terrassen verfallen, die Bewässerungsrinnen veröden, und das Land vertrocknet. Doch sie prägt die Landschaftsform der Alpujarras und sichert den jungen Wohlstand. Der kam so schnell, dass darüber kein Bürgermeister der Region ernsthaft nachgedacht hat. Die Zeit hatte eine andere Dimension in den Alpujarras.

„Anda“, treibt Enrique seinen Maulesel an und schlägt ihm auf die Flanke. Er selbst greift den Schweif des Tiers und lässt sich den Berg hinaufziehen. Schritt für Schritt.