„Die Freiräume sind in Gefahr“

Aus Angst vor einem neuen Kolonialismus durch die USA solidarisieren sich arabische Länder mit Saddam Hussein. Das stärkt Nationalismus und Islamismus, aber nicht die Demokratisierung. Ein Gespräch mit dem Maghreb-Historiker Benjamin Stora

Interview DOROTHEA HAHN

taz: Herr Stora, Sie sind Historiker. Wie charakterisieren Sie den Krieg im Irak?

Benjamin Stora: Die amerikanische Spitze betrachtet den Irak als wirtschaftlichen Raum. Nicht als politischen. Den wirtschaftlichen Raum wollen sie sich aneignen. Für das Funktionieren, den Aufbau und die Entwicklung der Gesellschaft interessieren sie sich nicht. Damit befinden wir uns in einer Logik des Europas des 19. Jahrhunderts. Die Briten hingegen haben die Region zwischen 1917 und 1932 direkt kolonisiert. Danach haben sie eine Monarchie installiert.

Das sind unterschiedliche Voraussetzungen.

Es ist der Krieg einer alten Kolonialmacht und einer neuen Kolonialmacht. Die USA haben sich bislang nicht als Kolonialmacht gegeben. Sie waren einst selbst eine Kolonie von Großbritannien. Die USA haben Militäreingriffe gemacht, sich dann zurückgezogen und lokalen Eliten die direkte Verwaltung überlassen. Die amerikanische Tradition in der Region war bislang die Unterstützung für monarchistische und islamistische Regime – mit Saudi-Arabien und mit den Emiraten. Es ging darum, die Erdölroute zu kontrollieren. Dieses Mal geht es um mehr als um Einflusszonen. Es geht darum, einen Markt zu penetrieren. Ihn sich anzueignen. Ihn zu kontrollieren. Ihn direkt zu dirigieren. Das ist eine Koloniallogik. Darum ist dieser Krieg ein echter Wendepunkt. Die Bush-Administration wirft damit den Gang der amerikanischen Geschichte über den Haufen. Die Intervention in Afghanistan und die Tatsache, dass die amerikanischen Truppen immer noch da sind, waren dafür Vorzeichen. Das neue Vorhaben kann dazu führen, dass tausende von Ingenieuren in den Irak kommen, um das Erdöl aus dem Boden zu holen.

Sie sehen eine Rückkehr zum Kolonialismus alten Typs?

Der Kolonialismus kann sich zum Beispiel am britischen Modell anlehnen. Mit der Einsetzung eines Systems aus Mandaten und Protektoraten und einer indirekten Verwaltung, inklusive der Installation von Übergangsregierungen. So haben es die Briten gemacht, als sie die Monarchie im Irak installiert haben, die sie über ihren Botschafter dirigierten.

Was hat den Wechsel in der US-Politik ausgelöst?

Die Bush-Administration traut ihren arabischen Partnern nicht mehr. Seit dem Schock des 11. September, als drei Viertel der Luftpiraten aus Saudi-Arabien kamen, will sie die direkte Kontrolle haben. Statt Alliierte will sie Unterworfene.

Damit richtet sich der Krieg nicht nur gegen das Regime in Bagdad, sondern auch gegen die der Nachbarländer?

Die USA hoffen, die ganze Region zu ihrem Nutzen abzusichern. Und Regierungen nach ihrem Willen zu installieren.

Können Sie sich vorstellen, dass dieser Krieg die Demokratie in der arabischen Welt fördert?

Im Gegenteil. Dieser Krieg wird die Demokratisierung verzögern und komplizieren. Das ist schon jetzt deutlich. In den arabischen Ländern gab es Anfänge von Zivilgesellschaften. Anfänge von Demokratisierung. Anfänge von Frauenrechten. Und einen gewissen Freiraum für Journalisten. Dieser Prozess ist in Gefahr. Daraus kann identitäre Rückbesinnung werden – zu Nationalismus und Islamismus.

Gegenwärtig identifizieren sich viele Menschen in der arabischen Welt mit den Irakern. Wird das von Dauer sein?

Das hängt davon ab, wie lange der Krieg dauert. Aus verschiedenen Gründen. Da ist erstens die muslimische Solidarität, eine identitäre Solidarität. Da ist zweitens die antikoloniale Erinnerung: Was jetzt geschieht, wird als Krieg zur Eroberung eines Landes wahrgenommen. An diese koloniale Vergangenheit haben viele in den arabischen Länder – ganz besonders im Maghreb – noch eine frische Erinnerung. Damals war es Frankreich. Da ist drittens der Nationalismus, als eine Art, sich gegenüber dem Westen mit einer nationalen Geschichte zu bestätigen. Wenn der Konflikt lange dauert, werden diese drei Elemente sich vermischen und gegenseitig verstärken.

Wie wird sich der Antiamerikanismus in den arabischen Ländern entwickeln?

Auch das hängt von der Dauer des Krieges ab. Im Übrigen ist der Antiamerikanismus nicht auf die arabische Welt beschränkt. Er findet sich überall im Süden. Es ist die Ablehnung einer Okzidentalisierung. Die Ablehnung einer Politik, die mit zweierlei Maß misst. Das wird die internationalen Beziehungen komplizieren.

Wird diese Zuspitzung auch Europa treffen?

Selbstverständlich.

Obwohl Frankreich, Deutschland, Belgien und einige andere europäische Länder gegen diesen Krieg opponiert haben?

Es ist nicht sicher, dass Chiracs Politik die Sicht der arabischen Welt auf Frankreich verändert hat.

Was sind die historischen Hintergründe der französischen Position?

Das kann man auf zwei Ebenen deuten. Einerseits ist Frankreich aus der direkten Form der Kolonisierung ausgestiegen, in der die Länder den eigenen Bedingungen angeglichen wurden. Das ist gescheitert. In Algerien und in Indochina mit blutigen Unabhängigkeitskriegen. Daraus hat Frankreich seine Lehren gezogen, das ist ein Realitätsprinzip. Stattdessen gibt es heute die Suche nach anderen Formen der wirtschaftlichen Beherrschung. Auf einer zweiten Ebene findet man die starke Bindung zwischen der französischen Politik und dem arabischen Nationalismus – die alte Tradition der französischen Revolution im Inneren des Baathismus und des Nasserismus. Dass man im Irak im Jahr 1958 ausgerechnet den 14. Juli – den französischen Nationalfeiertag – ausgewählt hat, um die Monarchie zu stürzen und sich von der britischen Vorherrschaft zu befreien, war kein Zufall, sondern ein deutlicher Hinweis auf die Französische Revolution. Das waren die Anfänge des Baathismus. Später kam es zur Diktatur von Saddam Hussein.

Welche Möglichkeiten hat Europa, um die Zuspitzung der Beziehungen zur arabischen Welt zu stoppen?

Wir müssen Solidarität zeigen und für ein sofortiges Kriegsende demonstrieren. Doch die Verweigerung dieses Kriegs, die unbedingt nötig ist, genügt nicht. Die europäische Linke muss Kontakt zu den Oppositionen, zu den demokratischen Bewegungen in der arabischen Welt suchen.