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Archiv-Artikel

Flatterhafte Stille

Unsere Lieblingsinsekten: Das Goldauge erfreut den Betrachter durch seine Würde

Mit dem Verschwinden von Rasenmäherlautstärkevergleichen und Grillbrandopfern aus dem öffentlichen Gewirke bahnen sich jedes Jahr im Herbst freundlichere Erscheinungen ihren Weg zu unseren Wahrnehmungsapparaten. Ein verlässlicher Gast um diese trüb werdende Zeit ist das freundliche Goldauge. Es ist auf einmal da. Ungerufen. Einfach so.

Dieses zwanzig Millimeter lange Insekt (Chrysopa perla) gehört zur Familie der Schlagzeilenuntauglichen. Sämtliche Lokalredakteure dieses Landes können die Vita jeder einzelnen Miniermotte oder das Balzverhalten von adoptierten Furzkissenmilben im Schlaf herunterleiern. Marienkäfer landen als Motive mit saisonalen Deviationen auf Spieluhren und Kleckerlätzchen. Schön- und Zartheit des sympathischen Goldauges – auch als Florfliege bekannt – aber interessieren niemanden. Ein Skandal! Ausdruck findet das transparente Wesen des Goldauges in den mehr als zerbrechlichen Flügelchen, die an Haarnetze spätmittelalterlicher Hofdamen erinnern und einen stecknadeldünnen Rumpf bedachen. Kombiniert wird die Farbe des fragilen Leibchens von saftigem Entengrützengrün mit dem Grün des alten Fünfmark- und des alten Zwanzigmarkscheines, verstärkt um einige Reflexe von gegen das Herbstlicht gehaltenem eins zu fünf verdünntem Waldmeistersirup. Das ist doch was fürs Auge!

Träge rudern die genobbelten Antennen, während sie Freundlichkeiten an die Freundinnen in der Nachbarwohnung funken oder von da empfangen. Dazu funkeln die goldenen Augen. Mit denen sie längst, da sind wir sicher, das Törichte und Vergebliche unseres Treibens durchschaut haben.

Ihresgleichen sucht zudem die Raffinesse des Nachwuchses. In der Nähe von Blattlauswohnparks, damit ihre schlüpfenden Larven sogleich am gedeckten Tisch sitzen, schraubt eine Goldaugenmama haargenau einhundert Eier auf hauchdünne Fäden, die dann wie verhungerte Streichhölzer aussehen. Zur Tarnung behängen sich die geschlüpften Tierchen mit den Häuten gefressener Blattläuse. Unglaublich.

Fast glauben wir, unsere goldäugigen Gäste seien weiblich, so vorbildlich verbinden sie ihren Aufenthalt mit Diskretion und Würde. Sie ziehen keine obszönen Umlaufbahnen um Glühbirnen, verunstalten Wände und Decken nicht mit exkretorischem Pointillismus, stören weder Büro- noch Beischlaf, stechen nicht und haben auch keine indifferente Haltung zum Irakkrieg. Als stille Teilhaber verfolgen sie lediglich, auf der Klemmlampe sitzend, was wir da so in den PC klappern. Höflich verharren sie stundenlang an einem Fleck. Wahrscheinlich gehen ihnen dabei allerhand Erlebnisse vom Sommer durch den kleinen Kopf: die saftigen Blattläuse, die süßen Boys von der Ligusterhecke, die Ausflüge mit den Freundinnen, hach …

Offensichtlich vergessen sie darüber das Fressen. Denn noch bevor das Frühjahr dräut, finden wir einen nicht unerheblichen Teil der Population strohig ausgeblasst, ohne Gold im Blick, auf dem Rücken liegend und eindeutig tot beim Wischen der Fensterbänke, beim Renovieren unseres Rauchsalons oder in den Unterkünften des häuslichen Personals. So viel Leichtsinn müsste eigentlich nicht sein, meine lieben Damen Goldaugen! Wirklich nicht. MICHAEL RUDOLF