: Wo die Kannibalen hausen
AUS GONAÏVES TONI KEPPELER
Die Straße von Port-au-Prince nach Gonaïves ist die wichtigste Überlandverbindung Haitis – 150 Kilometer Schotterpiste mit tiefen Löchern. Am Rand stehen kleine Holzhäuschen, die aussehen wie Illustrationen aus Märchenbüchern. Unter dem weißen Puder, der sie überzieht, lässt sich kaum noch die Farbe erkennen, mit der sie einmal gestrichen wurden. Die Menschen, die hier leben, fressen im Wortsinn Staub. Aber dort, wo sich die Straße ins sumpfige Tiefland vor Gonaïves hinabwindet, wohnt kein Mensch. Steinige Erde, ein paar Kakteen, dorniges Gestrüpp. Hier wurde am 22. September vergangenen Jahres die Leiche von Amoit Métayer gefunden. Seine Mörder hatten ihm beide Augen ausgeschossen, die Brust geöffnet und das Herz herausgerissen.
Das gestohlene Herz, erklärt ein Richter, der lieber anonym bleiben will, habe mit dem Voodoo-Glauben der Haitianer zu tun. Die Täter wollten sicherstellen, dass Métayer nicht als Zombie wiederkehrt. Und die Sache mit den Augen sei eine reine Vorsichtsmaßnahme, behauptet der Jurist allen Ernstes: Auf der Netzhaut eines Getöteten bleibe das letzte Bild erhalten, das er vor seinem Tod gesehen habe. Jeder Gerichtsmediziner könne das Bild sichtbar machen und so schnell feststellen, wer die Täter waren. Voodoo ist in Haiti – neben dem Christentum – Staatsreligion.
Die schützende Hand
Der grausame Zauber konnte die Spur der Täter nicht verwischen. Jeder in Gonaïves weiß, wer Amoit Métayer ermordet hat. Am Tag vor seinem Tod wurde er von der Polizei verhaftet. Er war der Chef der „Kannibalen-Armee“, einer brutalen Schlägertruppe aus dem Armenviertel Raboteau. Lange hatte Präsident Jean-Bertrand Aristide seine schützende Hand über ihn gehalten, die „Kannibalen“ drangsalierten in seinem Auftrag die Opposition. Zuletzt aber war die Bande für Aristide zur Belastung geworden. Amoit Métayer hatte damit gedroht, er werde über seine Beziehungen zum Präsidenten plaudern. Das kostete ihn das Leben. Nun ist sein Bruder Butteur Chef der Schlägertruppe und der meistgesuchte Mann Haitis.
Die Polizei weiß, dass sich Butteur in Gonaïves Armenviertel Raboteau versteckt. Dennoch war es über Monate ein sicheres Versteck. Raboteau ist ein aufmüpfiges Quartier in einer aufmüpfigen Stadt. Gesuchte genießen Respekt, die jeweilige Staatsmacht dagegen nur selten. In Gonaïves wurde vor 200 Jahren die Unabhängigkeit Haitis von der französischen Kolonialmacht ausgerufen. Hier begannen Mitte der Achtzigerjahre die Unruhen, die 1986 den Diktator Jean-Claude Duvalier vertrieben. In Raboteau gab es die ersten Demonstrationen, die die Rückkehr Aristides aus dem Exil forderten, nachdem er 1991 bei einem blutigen Militärputsch gestürzt worden war. Und in Raboteau bahnt sich nun, mitten in Aristides zweiter Amtszeit, der Sturz des einstigen Befreiungshelden an: am vergangenen Wochenende haben Aufständische die Polizei vertrieben und die Stadt besetzt.
Dabei wirkt der Ort – zumindest bis vor ein paar Tagen – gar nicht wie ein Hexenkessel. Für ein haitianisches Armenviertel ist es ordentlich und sauber. Etwa 100.000 Menschen wohnen dort, nicht nur in schnell gezimmerten Hütten aus Schwemmholz und Wellblech. Es gibt auch zweigeschossige Holzchalets mit Balkonen und sogar gemauerte Häuser. Die meisten Straßen sind gepflastert. Trotzdem ist mit dem Auto kein Durchkommen. Jede Kreuzung ist blockiert, das Pflaster ist aufgerissen. Müll und Schrott türmen sich zu Barrikaden. An einer Ecke steht ein ausgebrannter Jeep.
Wer Butteur Métayer treffen will, muss auf dem Sozius eines der vielen kleinen Mopeds Platz nehmen, die in Raboteau als Taxis dienen. In rasender Fahrt geht es vorbei an Barrikaden, einmal quer durch den Ort. Am anderen Ende, am Karibikstrand, wo sich die geordneten Wohnblocks in Chaos auflösen, wo die Fischer ihre Netze trocknen und die Gerippe von abgetakelten Booten liegen, dort hat die „Kannibalen-Armee“ ihr Hauptquartier. Ein Unterstand mit Wellblechdach, umschlossen von Hütten, sodass er von der Straße aus nicht sichtbar ist. Drinnen zehn schwere Jungs, denen man nachts lieber nicht begegnen will und eigentlich auch nicht am Tag. Sie lümmeln auf schief gesessenen Stühlen. Eine zerbrochene Tischtennisplatte wird als Tafel benutzt: Ein gekritzelter Lageplan, ein paar Kreuze und Pfeile und unleserliche Worte.
Der neue Oberkannibale
Butteur, 32, im karierten Hemd, in Bermudahosen und Plastikschlappen, ist noch der Freundlichste der düsteren Truppe. Er ist klein und untersetzt und wirkt mit seinem runden Gesicht, den wenigen Haaren und dem dünnen Vollbart wie ein Riesenbaby. „Wir haben eine halbe Stunde Zeit“, sagt er. Weiße fallen auf in dem ausschließlich von Schwarzen bewohnten Viertel. Es spricht sich schnell herum, wenn welche gesehen werden, vielleicht bis zur Polizei. „Die Polizei braucht eine halbe Stunde, bis sie hier ist“, sagt Butteur. „Und dann fragt sie nicht lange, dann schießt sie.“
Erst vor ein paar Tagen waren sie hier. „Sie kamen mit drei Hundertschaften. Auf dem Landweg, mit Schnellbooten übers Meer und mit Hubschraubern. Sie glaubten, ich sei in eines der Häuser geflüchtet. Sie haben es einfach abgefackelt. Ein zwei Wochen altes Baby ist dort verbrannt.“ Tatsächlich steht ein paar Straßen weiter eine rußschwarze Ruine. Davor sitzt ein Mann, der sagt, er sei der Vater des verbrannten Kindes. Die Polizei will davon nichts wissen.
„Früher haben wir für die Regierung gearbeitet“, erzählt Butteur. „Wenn die Opposition auf die Straße wollte, haben wir das verhindert. Mal haben wir 500 Dollar dafür bekommen, manchmal auch 1.000 oder mehr. Meinem Bruder hat Aristide auch ein Auto geschenkt.“ Es steht ausgebrannt am Strand. Angeblich hat es die Polizei angezündet. „Wir waren damals bloß ein paar Dutzend Leute und hatten nur wenige Waffen.“
Zuletzt war die „Kannibalen-Armee“ im Dezember 2001 für den Präsidenten im Einsatz. Ein Trupp von Paramilitärs hatte den Präsidentenpalast gestürmt. Bis heute ist nicht klar, ob es sich dabei um einen dilettantischen Putschversuch handelte oder ob Aristide den Überfall inszeniert hat, um danach seine Truppen in einer Welle angeblich spontanen Volkszorns auf die Opposition losschlagen zu lassen. In Gonaïves brannten die „Kannibalen“ Büros und Privathäuser von Oppositionspolitikern nieder. Zwei Hausangestellte kamen dabei ums Leben. Die Organisation Amerikanischer Staaten forderte die Verhaftung von Amoit Métayer. Auch die USA wollten ihn haben: Der Chef der „Kannibalen-Armee“ sei in den Kokain-Schmuggel verstrickt. Aristide gab nach und ließ Métayer ins Gefängnis werfen. Doch seine Bande riss mit einem Bulldozer die Gefängnismauern ein und befreite ihren Chef. Sollte er wieder verhaftet werden, drohte der Oberkannibale, werde er plaudern.
„Früher war Aristide stolz auf uns“, sagt Butteur. „Er hat öffentlich gesagt: ‚Ich bin der Präsident der Kannibalen.‘ Heute nennt er uns Terroristen. Aber er hat meinen Bruder ermordet. Er ist der einzige Menschenfresser.“ Die „Kannibalen-Armee“ wechselte die Seite und den Namen. Heute nennt sie sich „Widerstandsbewegung für die Absetzung von Aristide“ und hat angeblich 300 bewaffnete Anhänger. Bis vor ein paar Tagen arbeitete sie eng mit der bürgerlichen Opposition zusammen. Doch seit dem Ausbruch der Gewalt distanziert sie sich öffentlich. In Gonaïves wird sie von dem Unternehmer Robert Auguste geführt wird: Eine zwielichtige Figur, die während des auf Duvalier folgenden blutigen Militärregimes einmal Informationsminister war.
Aristide mobilisiert den Mob
Auch in Port-au-Prince formen sich vorher undenkbare Fronten. In Cité Soleil, dem größten Slum der Hauptstadt, wurde wie in Raboteau ein Gang-Führer ermordet, weil er damit gedroht hatte, er werde plaudern. Seither herrscht ein blutiger Krieg zwischen Banden, die weiterhin auf der Seite Aristides stehen und solchen, die ihn stürzen wollen. Fast täglich demonstrieren Studenten gegen die Regierung. Die bürgerliche Opposition unter der Führung des Textil-Unternehmers und Bankiers André Apaid ruft regelmäßig zu Großkundgebungen auf. Aristide mobilisiert dagegen den Mob. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die in Schießereien enden.
Apaid formuliert in seiner Villa aus Beton und Glas am Hang über Port-au-Prince sein Ziel mit denselben Worten wie Butteur Métayer in seinem Unterstand in Raboteau: „Aristide muss weg!“ Ein millionenschwerer Unternehmer, der seinen Arbeiterinnen weniger als zwei Dollar Lohn am Tag bezahlt, und ein rachsüchtiger Pistolero aus dem Slum. Eine seltsame Allianz, die für die Zukunft Haitis so wenig Hoffnung macht wie Aristide.