: Aus virtuell wird real
Die weltweite Finanzkrise ist noch nicht vorbei. Im Gegenteil: Sie startet in eine neue Phase, denn jetzt beginnt die Rezession erst richtig. Aber warum sind die Börsen dann noch so optimistisch?
VON ULRIKE HERRMANN
Was macht eigentlich die Finanzkrise? Gibt’s die noch? Es ist still um sie geworden. Natürlich, am Wochenende fand der Weltfinanzgipfel in Washington statt, und am Montag war das große Thema eine mögliche Staatsbürgschaft für Opel. Aber letztlich kam als Botschaft immer heraus: abwarten und beraten. Bei Opel soll eine Entscheidung bis Weihnachten fallen, und über die weltweite Finanzarchitektur will man bis März nachdenken. So schlimm, so der Eindruck, kann es dann ja doch nicht sein.
Optimistisch sind offenbar auch die Börsen: Der deutsche Aktienindex DAX bewegt sich noch immer bei etwa 4.500 Punkten. Das ist zwar weit entfernt von seinen Werten im Januar, als dieser noch bei über 8.000 Punkten stand. Die Finanzkrise hat die Börsen also nicht völlig ungerührt gelassen. Trotzdem ist die Zuversicht der Anleger schlicht erstaunlich: Bei 4.500 Punkten lag der DAX zuletzt Mitte 2005. Damals jedoch war die Rezession überwunden, das Wachstum legte zu – während diesmal der Abschwung erst noch kommt. Aber irgendwie scheint dies nicht ins Bewusstsein der Spekulanten vorzudringen.
Der Optimismus erstaunt
Das mag auch mit einer Besonderheit dieser Finanzkrise zusammenhängen. Die Schocks ereignen sich sporadisch, mit langen Pausen dazwischen. Da fällt es leicht, die Finanzkrise zwischendurch zu vergessen. Zwei Mal ist dies bisher schon gelungen. Um die Stop-and-go-Geschichte dieser Krise kurz zu rekapitulieren:
Juli 2007: Der Immobilienmarkt in den USA bricht ein. Also geraten Wertpapiere in Not, mit denen Hypothekarkredite verbrieft worden waren. In Deutschland sind besonders die IKB und die Landesbanken betroffen.
Erste Pause. Die Finanzkrise ist fast vergessen, stattdessen erregen die Ölpreise, die auf knapp 150 Dollar pro Barrel steigen.
März 2008: Die US-Investmentbank Bear Stearns kollabiert und wird im letzten Moment mit Staatsgarantien an J. P. Morgan Chase verkauft.
Zweite Pause. Die Welt wird unter anderem durch den Krieg in Georgien erschreckt.
September 2008: Die US-Investmentbank Lehman Brothers geht pleite – und die Finanzkrise eskaliert. Es folgen Staatsgarantien, Teilverstaatlichungen und Konjunkturpakete. Einige Länder melden Staatsbankrott.
Bricht nun die dritte Pause an? Es gibt jedenfalls keinen Grund zu glauben, dass die Finanzkrise vorüber sei. Dies hat mit einer weiteren Besonderheit dieses seltsamen Crashs zu tun: Bisher war gar keine Rezession nötig, um ihn auszulösen. Die Finanzblase platzte von selbst, da sie selbst kleinste Erschütterungen nicht mehr vertrug. Die virtuelle Welt der Wertpapiere brach ab Sommer 2007 zusammen, weil die Häuserpreise in den USA nicht mehr stiegen. Der eigentliche Abschwung aber kommt erst noch, wie die Absatzkrise in der Automobilindustrie jetzt zeigt. Wie eine Rezession auf diese Finanzkrise zurückwirkt, ist jedoch völlig offen und ein historisches Experiment.
Billionen-Dollar-Verluste
Anders gesagt: Die Banken mussten weltweit bereits eine Billion Dollar abschreiben – obwohl die Krise jetzt erst die Realwirtschaft erreicht. Man kann daher noch gar nicht ermessen, wie groß der Korrekturbedarf bei Banken und Finanzwerten sein wird, wenn der Abschwung an Fahrt gewinnt.
Wenn etwa die Zahl der Arbeitslosen in den USA steigt, dann geraten dort nicht nur die Subprime-Hypotheken in Gefahr, die an Kreditnehmer ohne geregeltes Einkommen vergeben wurden. Dann können auch ganz normale Bürger ihre Schulden nicht mehr bedienen. Gleiches gilt für Karten- oder Studienkredite. Daneben sind Firmenkredite bedroht. Viele Unternehmen sind hoch verschuldet, weil auch sie „gehebelt“ haben: Sie haben wenig Eigenkapital eingesetzt, um damit ihre Renditen zu steigern. In einer Rezession kann es schwierig werden, diese Schulden noch abzuzahlen. Die Finanzkrise ist also längst nicht vorüber – sie startet in eine neue Phase.
Aber warum sind die Börsen dann so optimistisch? Das Kalkül der Anleger scheint zu lauten: Irgendwie wird uns der Staat schon raushauen. Ob mit Konjunkturpaketen, Garantien oder staatlichem Eigenkapital. Jede Intervention der Regierungen und Zentralbanken wirkt eben paradox: Als Rettung in letzter Not gedacht, wird sie auch gleich wieder zum Objekt von Spekulationen. Und so spiegeln die aktuellen Börsenkurse gar nicht mehr das Vertrauen in die Wirtschaft – sondern in den Staat. Ob das gut geht, ist ein weiteres historisches Experiment.