: Elegante Verzauberung
Ein erotisierter Kommissar sieht die Indizien nicht: Uwe Kolbes „Der Tote von Belintasch“
Der Dichter Uwe Kolbe war als Kulturstipendiat des Landes Rheinland-Pfalz nach Plovdiv, Bulgarien, verschickt worden, in die Landschaft also, die nördlich der griechischen Rhodopen liegt. Hier übergab Apollo der Sage nach Orpheus einst eine Leier, und in seiner Erzählung „Der Tote von Belintasch“ nimmt Kolbe den Mythos um den betörenden Sänger nun wieder auf.
An einem schönen Augusttag fliegen zwei Kommissare der Hamburger Mordkommission nach Plovdiv, wo sie ihren dortigen Kollegen bei der Aufklärung eines Mordes helfen sollen. Man hatte die zerstückelte Leiche des Deutschen Olaf D. in einem beinah künstlerisch zu nennenden Arrangement nahe der thrakischen Kultstätte Belintasch gefunden, dort, wo Orpheus von den Erinnyen zerfetzt worden sein soll. Im Laufe der Ermittlungen wird deutlich, dass Olaf D. als „Hobby-Thrakologe“ nicht nur dem Charme der Landschaft, sondern auch den „thrakischen“ Frauen völlig verfallen war.
Kriminologische Details interessieren Kolbe nicht. Vielmehr entführt er Bernd Löwitsch, einen der beiden Kommissare, in ein anderes Raum-Zeit-Gefüge, in einen „paradiesischen Osten“, wo die Betörung durch Frauen kein Ende nimmt und die Funktion „Kriminalkommissar“ immer weniger eine Rolle spielt: „Frauen. Junge, wahnsinnig viele junge und reizende Frauen. Frauen, die alles zeigten, was öffentlich zu zeigen war. Junge Brüste in tiefen Dekolletés. Lange Beine. Ideale Pobacken winkten mit den kurzen Röcken. Vor allem aber war es etwas wirklich Besonderes – Blicke. Sie schauten zurück. Sie nahmen Maß.“ Anstatt sich um den Fall zu kümmern, versinkt Löwitsch in einem erotischen Kosmos, in dem er die sich fast von selbst aufdrängenden Indizien nicht mehr erkennt.
Kolbe versetzt seine Leser in just die Position zu versetzen, in der sich auch Olaf D. und Kommissar Löwitsch wiedergefunden haben: Es ist die orphische Position der Verzauberung durch magische Infektion. Kolbes Sprache in dieser kurzen Geschichte ist dabei alles andere als schwülstig oder gar „poetisch“. Im Gegenteil, es herrscht ein teils witziger, teils spöttischer Lakonismus, je nach Erzählperspektive. Die grundsätzliche Zweigleisigkeit von thrakischem Mythos und Gegenwart, von Lesezauber und ironischen Distanzierungsmitteln so elegant zum Verschwinden gebracht zu haben wie Uwe Kolbe mit dieser Geschichte, das ist schon sehr fein.
Wenn man sich aber die hier vorgestellte bulgarische Gegenwart genauer anschaut, stellt man fest, dass das reale Plovdiv in der Erzählung überhaupt nicht vorkommt. Es ist, als ob Uwe Kolbe hätte testen wollen, wie tief bestimmte Muster in unserer Wahrnehmung verankert sind, auch dann noch, wenn wir sie eigentlich schon durchschaut haben: Es ist das immer noch sehr wirksame Phantasma des geheimnisumwobenen Ostens, wo die Frauen allesamt von einer dunklen, exotischen Anziehungskraft umgeben sind. Kolbe erspart sich die Kommentare, er überlässt es dem Leser, wie er aus dieser Geschichte herauskommt – und aus diesem wirklich schönen, bibliophil gestalteten Buch.
DIETER WENK
Uwe Kolbe: „Der Tote von Belintasch“. Das Wunderhorn, Heidelberg 2002, 48 Seiten, 15,50 €