: Nachbeben folgt auf Nachbeben
In der Koalition liegen die Nerven blank. Selbst Wolfgang Clement gibt den Panikmachern Zucker. Das könnte sich gefährlich hochschaukeln
AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF
Tritt jetzt auch noch Clement zurück? Zerbricht Rot-Grün wegen der Zuwanderung? Stoppt die SPD alle Reformen? Es ist nicht auszuschließen, dass eine Zeitung heute meldet, die Regierung plane die Ausrufung des Sozialismus, weil ein Abgeordneter aus dem Allgäu fordert, die Vermögensteuer müsse her. Für all die Aufregung gibt es einen Grund: Gerhard Schröders Abgang als Parteichef. Nun scheint alles möglich.
Es ist die Stunde der Seismografen, die jede Bewegung im Regierungslager akribisch registrieren und weitermelden. Auf das politische Erdbeben, das der Kanzler ausgelöst hat, folgen so viele kleine Nachbeben, dass in der Gesamtschau ein verheerendes Bild entsteht. Daran hat Rot-Grün selbst Schuld.
So blieb bis gestern Nachmittag unklar, ob Wirtschaftsminister Wolfgang Clement ernsthaft vorhat, seinen Posten als SPD-Vize abzugeben. Für Eilmeldungen und bissige Kommentare der Union genügte das Gerücht. Kein Wunder: Sollte auch noch Schröders „Superminister“ die Lust verlieren, droht in der Koalition ein Erosionsprozess in Gang zu kommen, der kaum noch aufzuhalten wäre. Indem Clement seine Parteiamtsmüdigkeit nur halbherzig dementierte, lud er zu weiteren Spekulationen ein. Mag er nicht mehr, weil seine Zeit als „Kronprinz“ des Kanzlers durch Münteferings Aufstieg vorbei ist? Oder befürchtet er, dass nun eine sozialdemokratische Politik betrieben wird, die seinen wirtschaftsliberalen Zielen widerspricht?
Schon das Bekanntwerden der Clement’schen Gedankenspiele ist für Rot-Grün fatal. In diesen Tagen wird jede Andeutung, jede noch so kleine Forderung, die normalerweise untergehen würde, gierig aufgegriffen und als Beleg für Panik oder Streit in der Koalition gewertet.
Weil die linken Grünen Christian Ströbele und Winfried Hermann sich für eine höhere Erbschaftsteuer aussprachen (was sie schon immer tun), meldete eine Nachrichtenagentur: „Grüne drängen auf Kurswechsel in der Reformpolitik.“ In Wirklichkeit wollen die Regierungsgrünen gerade umgekehrt eine Abkehr vom Reformkurs verhindern. Egal. Wenn es darum geht, den wachsenden Druck zu beschreiben, unter dem Rot-Grün steht, schafft es auch der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in die Nachrichten. Dabei hatte er nur die „soziale Schieflage“ erwähnt, die er seit der Ausrufung der Agenda 2010 vor einem Jahr beklagt.
Das alles wäre noch kein allzu großes Problem für Rot-Grün, wenn die Protagonisten in Berlin die Nerven behielten. Tun sie aber nicht. Selbst Krista Sager, der hanseatisch kühlen Fraktionschefin der Grünen, rutschen Sätze heraus, die bedrohlich klingen und für neue Schlagzeilen sorgen. „Das wäre ja sozusagen eine Aufkündigung der Koalition, wenn man sich hier an uns vorbei mit der CDU verständigt“, sagte sie gestern, als sie auf die Annäherung zwischen Otto Schily und der Union bei der Zuwanderung angesprochen wurde.
Es ist nicht anzunehmen, dass Sager glaubt, die SPD werde die Grünen einfach übergehen. Dafür ist schon ihr Verhältnis zu Müntefering viel zu gut. Dass sie trotzdem diese Warnung ausspricht, zeigt, dass sich Sager von der Stimmung anstecken ließ, die am Montag im grünen Parteirat herrschte. Dort war Chef Reinhard Bütikofer heftig angegriffen worden, weil er im Zuwanderungsstreit grüne Positionen aufgegeben habe.
Vor allem aber hatten sich die grünen Führungsleute darüber unterhalten, wie sie mit Schröders Rücktritt umgehen sollen. Allen war klar, die SPD könnte in ihrer Not geneigt sein, nur noch an sich selbst zu denken und weniger Rücksicht auf den kleinen Koalitionspartner nehmen. Dafür haben die Grünen zum Teil Verständnis. „Wir haben ein großes Interesse daran, dass die SPD wieder auf die Beine kommt“, sagt ein Spitzengrüner, „aber nicht auf unsere Kosten.“ Deshalb wurde intern eine Gut-und-böse-Liste aufgestellt. Gut sind Themen wie Erbschaftsteuer und Bürgerversicherung. Greift die SPD diese Themen auf, um sich als „sozial“ zu profilieren, will man sie bestärken. Böse sind ein schlechtes Zuwanderungsgesetz, der Atomexport nach China und wirtschaftsfreundlicher Emissionshandel. Wird die SPD da rabiat, will man dagegenhalten. Als gefährlichsten Kontrahenten sahen die Grünen noch am Montagabend: Clement. Dass der sich nun selbst zu demontieren scheint, hatte man nicht erwartet – und es macht auch den Grünen Sorgen. Weil es die Koalition insgesamt weiter destabilisiert.