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Archiv-Artikel

Ohne eigenen Antrieb läuft gar nichts

In der Jugendstrafanstalt Plötzensee sitzen zurzeit rund 20 bis 25 junge Serientäter ein. Vorbereitende Angebote für ein Leben ohne Kriminalität gibt es genug: Schulabschluss, Lehre, Therapie. Die Frage ist nur, ob sie genutzt werden

„Solange sie von der Gesellschaft als Fremde behandelt werden, bleibt das Problem“

Dass Eltern Straftaten ihrer Kinder gutheißen, ist für den Leiter der Jugendstrafanstalt Plötzensee, Marius Fiedler, kein unbekanntes Phänomen. Er erlebt es immer wieder, dass kriminelle Karrieren zu Hause geduldet, wenn nicht sogar gefördert werden. Das bezieht sich keineswegs nur auf Jugendliche nichtdeutscher Herkunft. Das Problem bei den Kindern von Einwanderern oder Flüchtlingen sei aber, dass sie sich stark in ihren eigenen Verbänden bewegten. „Wenn die Familie nicht mitzieht, wird man nicht positiv auf die Jugendlichen einzuwirken können.“ Auch eine Herauslösung aus der Familie gegen den Willen des Betroffenen werde wenig bringen, ist die Erfahrung des Anstaltsleiters – unabhängig vom Fall des 16-jährigen Sawis J., der seit Freitag als Untersuchungshäftling zu Fiedlers Kunden gehört.

Ob aus dem erstem Besuch von Sawis J. hinter Gittern ein längerer Aufenthalt wird, entscheidet das Jugendgericht. Laut Polizei soll er schon mit 62 Delikten aufgefallen sein, ist bisher aber nie verurteilt worden. Wenn ein Jugendlicher in den Knast gesteckt wird, muss einiges zusammenkommen. Nicht umsonst gilt im Jugendstrafrecht das Prinzip: Erziehung vor Strafe. „Eine Haftanstalt“, räumt Fiedler unumwunden ein, „ist sicher nicht der beste Ort, um positiv auf junge Menschen einzuwirken.“ Aber wenn dem denn so sei, könne die Zeit durchaus sinnvoll genutzt werden.

Im Jugendknast Plötzensee und dem dazugehörenden Haus Kieferngrund sitzen zurzeit 471 junge Männer ein, davon 92 in U-Haft. Rein zahlenmäßig wird das Zehn-Völker-Gemisch von den Deutschen angeführt, die mit rund 55 Prozent die größte Gruppe bilden, gefolgt von den Türken (11 Prozent) und den Libanesen (7 Prozent).

60 Prozent der Strafgefangenen, bei denen der Altersdurchschnitt bei 22 Jahren liegt, sitzen wegen Gewaltdelikten ein, vom Raub über schwere Körperverletzung bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Rund 20 bis 25 Insassen gehören laut Fiedler zu der Gruppe der so genannten jugendlichen Mehrfach- oder Intensivtäter. Zu diesen zählt auch der 20-jährige Palästinenser Mahmout R., den die Polizei schon bei rund 80 Straftaten erwischt haben will. An ihm war vor einigen Wochen die Diskussion über den Umgang mit jugendlichen Serientätern entbrannt.

„Wer dazu bereit ist, kann die Zeit in Haft sinnvoll nutzen“, sagt Fiedler. Den Schulabschluss nachholen, eine Lehre absolvieren oder eine Therapie machen. Fachpersonal sei ausreichend vorhanden: vom Lehrer über den Meister bis hin zum Psychologen. Einzige Voraussetzung ist der eigene Antrieb. Bei Insassen, die in die innere Emigration gingen, werde man jedoch kaum etwas bewirken. Als Beispiel verweist Fiedler auf einen 18-Jährigen, der keine Lehre machen will, weil er als Türsteher im Rotlicht-Milieu tausendmal besser verdiene. In solchen Fällen ist der Anstaltsleiter mit seinem Latein am Ende.

„Wir können sie ausbilden und ihnen eine Wohnung beschaffen“, sagt Vardis Marinakis, der seit elf Jahren im Jugendknast als Gruppenleiter und Psychotherapeut arbeitet. „Aber das A und O für eine gewaltfreie Zukunft ist ihre psychische Entwicklung.“ Das sei nicht im Alleingang zu schaffen. Angebote in der Anstalt gebe es genug, aber nicht jeder Insasse sei Willens und in der Lage, seine Straftaten in einer mehrjährigen Therapie aufzuarbeiten.

Marinakis ist gebürtiger Grieche, ein anderer Psychologe in Plötzensee ist gebürtiger Palästinenser, ein weiterer Italiener. „Wir sind froh um diese Fachleute, die wissen, was es bedeutet, Ausländer zu sein“, sagt Fiedler. Das Schimpfwort „Nazi“, das von Insassen nichtdeutscher Herkunft gegenüber Vollzugsbeschäftigen gern als Beleg für eine angebliche Diskrimierung im Munde geführt werde, ziehe bei diesen Mitarbeitern nicht.

Bei der Therapie von nichtdeutschen Gewalttätern erlebt Marinakis ein wiederkehrendes Muster: Die jungen Männer wurden von der Mutter grenzenlos verwöhnt und vom Vater – wenn überhaupt – mit rigoroser Strenge wahrgenommen. Dazu komme das Gefühl, in einem fremden Land aufzuwachsen. Dieses Gefühl gäben die Eltern an die Kinder weiter, sagt der Psychotherapeut, der von einem „positiven Rassismus“ der Deutschen spricht. Er meint damit das nachsichtige, wohlwollende Verhalten zuständiger Instanzen gegenüber ausländischen Kindern. Was seinen Klienten ihr Leben lang gefehlt habe, sei eine klare Strukturgebung im Sinne liebevoller Zuwendung und deutlicher Grenzsetzung. Das gelte nicht nur für die unmittelbaren Bezugspersonen. „Solange sie von der Gesellschaft als Fremde behandelt werden“, sagt der Psychotherapeut Marinakis, „wird das Problem bleiben.“

PLUTONIA PLARRE