: Das Rätsel Leben
Kein Respekt, keine Scham: Die Internetsitcom „Torstraße intim“ ist ein gelungenes Experiment
VON LAURA DAUB
„Ha-hast du den Pimmel von dem Jungen echt in den Mund genommen?“, fragt es unter einer tief in die Augen gezogenen Mütze hervor. Da schwingen sich zwei Arme um die kleine Schwester und trösten sie mit den Worten: „Ach, Meisi, es ist eine seltsame Welt, in der wir leben.“
Szenen wie diese sind typisch für das, was „Torstraße intim“, die erste deutsche Internetsitcom, auf dem Hoheitsgebiet der schrecklich netten amerikanischen Familien anstellt. Drei der zwölf Einblicke in das Leben einer modernen Patchworkfamilie sind auf www.torstrasse-intim.de bereits im Netz zu sehen. Allmählich zeichnet sich ab, was aus dem Filmexperiment geworden ist, das einen Gegenentwurf zum Humor im deutschen Fernsehen schaffen wollte – mit möglichst wenig Geld und möglichst viel Raum für spontane Einfälle. Die genaue Gestalt der Serie blieb dabei so offen und von so vielen verschiedenen Köpfen und Händen abhängig, dass es niemanden gab, der vorher hätte sagen können, wie die fertigen Folgen aussehen würden. Konstant jedoch ist eines: Scham gibt es hier nur als Lehrgebiet des Professorenvaters der vier Halbgeschwister, die sich eine Altbauwohnung in der Torstraße in Berlin teilen.
In den Kochtöpfen der Küche schwimmt hin und wieder die umfangreiche Dildosammlung des gegen die „heterosexuelle Matrix“ ankämpfenden Herrn Harndorf. Die jüngste Schwester löffelt exzessiv Naturjoghurt und versucht ihre Verschrecktheit zu überwinden, indem sie sich tagsüber in den mit Gigoloschnurrbart und ausgestopften Unterhosen ausgestatteten Pimp „Paff Meisi“ verwandelt. Bruder Bruno beweint die Liebesarmut in der Welt und bedient sich im Supermarkt der Religionen und Lebensentwürfe, um Folge für Folge an einem neuen Weltrettungsversuch zu scheitern.
Nicht einmal die morgendlichen hart gekochten Eier mit Banane lassen sich problemlos verspeisen an einem Frühstückstisch, auf dem mehr Pillen als Lebensmittel stehen. Die Bezeichnung „Sitcom“ dient dabei vor allem dazu, das damit bezeichnete Genre zu sprengen. Die üblichen Elemente – Familie samt Sofa, episodische Handlung, ein Gag nach dem anderen und natürlich das Lachen aus der Konserve – erscheinen bei „Torstraße intim“ immer etwas anders als im Genre üblich und manchmal sogar ganz gebrochen durch Verfremdung und Offenlegung der Produktionsbedingungen. „Das Besondere ist die Träne im Auge, zwischen dem ganzen Klamauk“, findet Daniel Regenberg, Regisseur und, gemeinsam mit Annika Pinske, Drehbuchschreiber der Serie. Wo die Scham fehlt, ist eben alles möglich, und das mit anzusehen tut manchmal weh. Respekt bekommt hier niemand, nicht Gott, nicht die wahre Liebe, nicht Kant, nicht Kunst, nicht das Mac Book. Alles, was irgendwie den Anspruch erhebt, ganz oder heilend zu sein, wird gnadenlos zerhauen und ins Sexspielzeuglager geworfen.
Die schamlose Sexualisierung geht zwar manchmal an die Schmerzgrenze, ist aber doch von einer ganz anderen Art als die anbiedernde Nabel- und Nippelschau im kommerziellen Fernsehen. Daniel Regenberg erklärt sich positive Reaktionen damit, „dass es nicht abstumpft, sondern offensichtlich Emotionen weckt: Es gibt Leute, die begeistert sind von ‚Torstraße intim‘, und es gibt Leute, die absolut nichts damit anfangen können. Wir polarisieren. Was wir zeigen, ist eben wenig massengeeignet. Ein dicker Strom an Symbolen und Codes, die nur entschlüsseln kann, wer ähnliche Erfahrungen in diesem unserem Umfeld gesammelt hat.“
Zum Beispiel Leute wie Robert Friebe. Als Kameramann war er bei einigen Folgen dabei. „Die Gags bringen einen gnadenlos dazu, im eigenen Umfeld Dinge wieder wahrzunehmen, die man zwar als irgendwie ungesund und störend empfindet, über die man aber aus reinem Selbstschutz irgendwann aufhört nachzudenken“, sagt er.
Ähnlich sieht es auch Carl Hegemann, der als Vater in jeder Folge vom Familienfoto prangt. „Es ist eine Studentensoap, das hat nichts von Schlüpfrigkeit. Eigentlich geht es um Einsamkeit, Gehemmtheit, das Rätsel Leben“, findet der langjährige Volksbühnen-Dramaturg. „Warum würde denn so etwas nicht im Fernsehen gezeigt werden, auf RTL2 zum Beispiel?“, fragt er und gibt selbst die Antwort: „Weil da Dinge angesprochen werden, die im Fernsehen tabu sind. Das Sexspielzeug hängt so frei in der Luft wie die Mitglieder dieser Familie, die zwar in einer Gemeinschaft zusammen wohnen, in der aber doch jeder sehen muss, wie er mit der gespaltenen Wirklichkeit heutiger Verhältnisse zurechtkommt.“
Die realen Verhältnisse der modernen Welt zeigen sich hier als das Ende der Familie, das Ende der Scham und die damit verbundene Auflösung von Sinn und Halt. Das ist die „seltsame Welt“, über die Bruno ständig in Tränen ausbricht. Wer sich und das eigene Umfeld wieder erkannt hat, kommt kaum darum herum, in das Konserven-Gelächter einzustimmen, das in der Torstraße hin und wieder aus dem Kühlschrank erschallt – und mit den Protagonisten sich selbst herzlich auszulachen.