Die Wiener Kino-Seligkeit

Alt im Kino: Douglas Wolfsbergers neuer Dokumentarfilm „Bellaria“ ist komischer, sanfter, und tragischer als all’ die Rührstücke der 30er Jahre, die seine kinobegeisterten Protagonisten so gerne wiedersehen – weil das Leben so grausig ist

„Des Leben is eh grausig, geh’n ma ins Kino!“ ist das Credo der treuen Stammkundschaft des „Bellaria“. In dem kleinen Wiener Programmkino werden nur Filme gezeigt, die mindestens 50 Jahre alt sind, und die Zuschauer sind entsprechend älter. Sie suchen hier ihre Jugend wieder, und für eskapistische Zeitreisen ist das Kino der ideale Ort.

Wenn Marikka Röck, Zarah Leander oder, ach!, Willy Birgel auf der Leinwand tanzen, scherzen und küssen, dann werden die Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer wieder ganz jung, und deshalb schneidet der Dokumentarfilmer Douglas Wolfsberger so oft zwischen der Leinwand und den schwach beleuchteten Gesichtern im Kinosaal hin und her.

In „Bellaria – So lange wir leben!“ stellt er das Kino, sein Personal und seine Kundschaft vor. Dabei ist ihm ein Film gelungen, der komischer, sanfter, rührender und tragischer ist, als all’ jene Rührstücke, die dort gezeigt werden.

Solch eine Ansammlung von skurrilen Menschen wie hier findet man selten in einem Film. Da wird schon fast eine Überdosis von Wiener Schmäh geboten, wenn etwa der Filmvorführer kühn seinen Projektionsraum mit dem Zweiten Weltkrieg vergleicht – bei beiden geht es um den „beengten Lebensraum“. Oder, wenn ein ehemaliger Damendarsteller mit Pferdeschwanz und strahlenden Augen erzählt, wie er es in den fünfziger Jahren einmal erreichte, dass als Abschiedsgruß für sein Idol Zarah Leander auf dem Wiener Bahnhof eines ihrer Lieder über die Lautsprechanlage gespielt wurde.

Wien scheint voller solcher Exzentriker zu sein. Wolfsberger hätte der Streifen sehr leicht zu einer Freakshow geraten können, bei der man sich über die Marotten dieser kinoverrückten alten Leute amüsiert hätte. Aber sein Blick ist immer liebevoll, selbst wenn es „grausig“ wird – wie etwa in der Szene, bei der man die Fußpflege einer über 70jährigen Matrone (und ehemaligen Nackttänzerin) in Nahaufnahme ansehen muss.

Im Bellaria träumen sie alle den gleichen Traum: die Rentnerin, die sich nur noch von billigen Konserven ernährt und ihre karge Monatsration auf einem Küchenregal aufgebaut hat, um sich die Kinobesuche leisten zu können. Oder der ehemalige Ufa-Star Karl Schönböck. Der lädt zu einer Autogrammstunde im Bellaria ein. Aber bei der Vorführung eines seiner Filme schaut er genauso gefangen auf die Leinwand wie seine Fangemeinde.

Ob er Angst vor dem Tod habe, fragt ihn der Filmemacher. „Nein“ antwortet der alte Schauspieler im Plauderton – und stirbt ein paar Wochen nach diesen Aufnahmen.

Der Tod ist immer zu spüren in diesem Film. Wolfsberger, dessen frühere Arbeiten Titel tragen wie „Lebe Kreuz und Sterbe Quer“ oder „Das letzte Geleit“, zeigt seine Protagonisten fast genauso gerne auf Friedhöfen wie im Bellaria. Und er fragt die alten Menschen auch ohne Scheu nach ihrem nicht mehr ganz so fernen Ableben.

Der philosophische Filmvorführer wünscht sich eine mittelmäßige Beerdigung, weil sein Leben ja auch mittelmäßig gewesen sei. Und die arme Rentnerin würde gerne mitten in einer Filmvorführung im „Bellaria“ sterben. Es gibt viele solche Momente in diesem Film. Sie sind zugleich morbide, witzig, sentimental – und doch wahrhaftig.

Wilfried Hippen

„Bellaria“ von Douglas Wolfsberger läuft ab heute täglich um 19 Uhr. Nur im Atlantis