: „Nur das Begehren ist interessant“
Die Schlacht zwischen Männern und Frauen ähnelt Napoleons Russlandfeldzug – der Eroberer dringt ein, steckt fest und kommt dann nicht mehr los. Ein Gespräch mit der Regisseurin Catherine Breillat über ihren Film „Anatomie de l’enfer“ (Forum), Adam und Eva sowie die Angst vor dem Körper
INTERVIEW MARCUS ROHTE
taz: Frau Breillat, vor einigen Jahren sorgten Sie mit den harten Sexszenen in „Romance“ für Furore, in „Anatomie de l’enfer“ erforscht Pornostar Rocco Siffredi den weiblichen Körper und schreckt dabei auch vor einem blutigen Cocktail nicht zurück. Suchen Sie die ständige Grenzüberschreitung?
Catherine Breillat: Ja und nein. Schließlich ist das Kino auch eine Industrie und man braucht viel Geld, um Filme zu drehen. Wenn die Menschen nicht so mittelmäßig wären, gäbe es im Kino auch eine größere Vielfalt und mutigere Experimente.
Was gefällt Ihnen an den Männern besonders?
Die Neuigkeit! Wenn mich ein unbekannter Mann anlächelt. (lacht) Den finde ich dann plötzlich sehr anziehend! Nur das Begehren ist interessant, den Rest einer Begegnung kennt man schon. Die Lesarten sind leider immer dieselben und daher reproduziert man auch oft ähnliche Situationen. Daher ist es so wichtig, jedes Mal neu an eine Begegnung zu glauben.
Was glauben Sie denn?
Ich bin im Grunde ziemlich zynisch, aber lebe lieber auf eine ganz naive Weise. Das Leben ist mir nur wichtig, weil es im Grunde keine Bedeutung hat. Und wer nichts zu verlieren hat, kann auch heldenhaft sein.
Warum unterliegen die Beziehungen zwischen Männern und Frauen bei Ihnen einer unverrückbaren Mechanik?
Diese Mechanik ist nicht vollkommen zwingend. Aber selbst unser Intimstes, die Sexualität, also unsere Beziehung zum Anderen wird von allen möglichen Dingen vergiftet. Daher wollte ich in „Anatomie de l’enfer“ beinahe an den Ursprung der Welt zurückgehen: Der erste Mann steht der ersten Frau gegenüber. Mann und Frau gibt es erst, seitdem Eva in die verbotene Frucht gebissen hat. Dieser Moment fasziniert mich: der Beginn des Begehrens. Während der Mann bei dem Gefühl und der Verführung seine Kraft verliert, geht die Frau daraus meist gestärkt hervor.
Warum sollte der „erste Mann“ ausgerechnet von Rocco Siffredi gespielt werden?
Ich brauchte jemanden wie ihn, der keine Probleme mit seiner virilen Identität hat. Schließlich musste „der erste Mann“ noch nicht an seiner Männlichkeit zweifeln – die wurde erst durch die Zivilisation in Frage gestellt.
Wollen Sie schockieren?
Ich will die Verdrängungsmechanismen bei der Sexualität überwinden. Im Forum der Berlinale ist eine etwa dreißigjährige Frau bei der Szene mit dem Tampon aus meinem Film gerannt, weil sie mit dem Brechreiz kämpfte. Hat sie noch nie einen blutigen Tampon gesehen? Ich bringe ihr doch nichts Neues bei! Anscheinend konnte sie bloß nicht ertragen, dass den anderen Zuschauern so etwas in ihrer Gegenwart gezeigt wird. Wir leben immer noch in einer ständigen Verdrängung des Körpers. Daher werde ich auch angeklagt, Unerträgliches zu zeigen.
Wollten Sie daher Ihrem Film ein Art Urpaar zeigen, das keine Vergangenheit hat?
Nicht ganz, denn es gibt einen Übergang vom Tierischen zum Menschlichen, vom Bewusstsein der Gefühle zur Welt der Gedanken. Ich glaube, dass die Sprache der Liebe, also die menschliche Sexualität, nicht so sehr zum Bereich des Animalischen, sondern vor allem zum Bereich des Denkens gehört. Warum interessiert uns der Sex ganz unabhängig von der Fortpflanzung? Weil wir uns dabei eine andere Identität, Existenz und Zukunft vorstellen können. Tieren geht es anders.
Sie inszenieren den weiblichen nackten Körper der Schauspielerin Amira Casar wie ein geheimnisvolles Bild – mit teuflischen und engelhaften Zügen.
Meinem Kameramann hatte ich vor den Dreharbeiten von den Frauen auf den Aktbildern der italienischen Renaissance etwa von Caravaggio erzählt: In ihren lasziven Posen mischen sich die religiöse und die körperliche Extase. Denn nur unter dem Deckmantel ihrer religiösen Themen konnten die Maler damals der Zensur entgehen. Amira Casar ähnelt keiner Madonna, sondern vielmehr Christus selber. Wie auf den Fresken von Michelangelo. Ihr Gesicht ist geheimnisvoll und ihr Körper dem weiblichen Ideal auf den Bildern der italienischen Renaissance.
Wissen Sie nach Ihren Filmen jetzt mehr über die wirklichen Unterschiede zwischen Mann und Frau?
Das weibliche Geschlecht fasziniert und erschreckt zugleich. Die Frau in meinem Film bietet sich dem Blick des Mannes an und daraus entsteht Verführung, Anziehung. Da Amira Casar nicht alle Nahaufnahmen spielen wollte, habe ich dafür eine andere, stärker behaarte Frau engagiert. So sieht ihr Geschlecht beinahe wie der Alptraum eines Mannes aus.
Es gibt eine Verbindung von Jack the Ripper bis zu den islamistischen Frauenmördern in Algerien, wenn sie ihren Opfern die Innereien herausreißen: Dahinter steckt der Hass der primitiven Männer gegenüber einer weiblichen Vagina, die ihnen so schrecklich groß und abgründig tief erscheint.
In Ihrem Film sind die Rollen zwischen dem Betrachter und dem Objekt der Begierde im ständigen Wechsel.
In jeder Liebesbeziehung kommt es zu einem Rollentausch. So wie im „Reich der Sinne“ von Nagisa Oshima ist der Mann anfangs stark, aber sobald er verführt ist, wird er zu seinem eigenen Gefangenen. Die Schlacht zwischen Männern und Frauen in der Liebe erinnert mich an Napoleons Russlandfeldzug. Napoleon ist ein Eroberer, der siegreich in Russland eindringt und dann nicht mehr zurückkann, feststeckt. Es ist paradox: Anfangs dominiert der begehrende Mann, aber wenn er erst mal verführt ist und in den Körper der Frau eindringt, lässt er sich gefangen nehmen.
Dass der Mann in meinem Film in diesem Moment seine Kraft und sein Gleichgewicht verliert, macht ihn wütend, denn er versteht nicht, dass er zum ersten Mal verliebt ist. Das Unbekannte macht immer Angst. Und man muss erst zulassen, dass die Gefühle uns schwächen, um in der Liebe stärker werden zu können.
Werden Sie weiter am Sex arbeiten?
Ja, wenn man mit einem Menschen schläft, wird er zu einem großen Unbekannten. Der Sex bringt uns keine Erkenntnisse über einen anderen Menschen, sondern macht ihn uns noch mysteriöser, noch geheimnisvoller. Man kann niemanden besitzen und auch selbst beim Sex nie wissen, was der andere denkt. Da sich uns der andere immer wieder entzieht, entsteht die amouröse Beunruhigung und das ständig enttäuschte Begehren nach einer utopischen Fusion mit dem anderen.