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Archiv-Artikel

Das Menschheitspuzzle

Immer mehr Vorfahren des heutigen Menschen bringt die Forschung ans Tageslicht. Mehrmals schon wurde die Geschichte des Menschen umgeschrieben. Auch die neuen Ergebnisse sind nur vorläufig

VON URS FITZE

Wer sich wissenschaftlich mit dem Urmenschen befasst, muss damit leben, immer neue, ganz anders schmeckende Früchte vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. „Die Grundlage unserer Forschung sind Millionen Jahre alte Fossilien“, sagt Friedemann Schrenk, Paläobiologe am Institut für Zoologie der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. „Wir haben nicht allzu viele davon. Da kann schon ein einziger Fund unsere Hypothesen über den Haufen werfen“.

So geschehen im Sommer 2002. Ein in der Djurab-Wüste im Tschad von einem Forscherteam der Universität Poitiers gefundener Schädelknochen will nicht in das Bild passen, dass sich Schrenk und viele andere Wissenschaftler von der Entwicklung der ersten Hominiden, der „Menschenähnlichen“, gemacht hatten. Für sie lag die Wiege der Menschheit in Ostafrika, denn dort konzentrierten sich dort die bislang ältesten Funde. Doch jetzt zeigt sich, dass die im Tschad aufgefundenen sechs Knochenstücke mit sechs bis sieben Millionen Jahren noch etwas älter sind als die nur wenige Monate zuvor in Äthiopien entdeckten Fossilien. Die beiden Funde und ein weiterer in Kenia lassen das Geschichtsbuch der Entwicklung des Menschen immer dicker werden – und in immer fernere Zeiten zurückreichen.

Noch in den 60er-Jahren galt als ausgemacht, dass der Urmensch sich vor rund einer Million Jahren entwickelte. Ein Jahrzehnt später waren es schon drei, und heute sind es sechs bis sieben. Und auch die Vorfahren werden immer zahlreicher. „Wir Menschen haben keinen Stammbaum“, schließt Schrenk aus dem jüngsten Fund im Tschad. „Eher ist es ein Stammbusch.“ Oder sogar eine ganze Lichtung von unabhängig voneinander austreibenden Büschen.

Nach der jüngsten von Schrenk vertretenen Theorie haben sich die ersten menschenähnlichen Wesen an mindestens drei Orten Afrikas praktisch zur selben Zeit entwickelt: im Tschad, in Äthiopien und in Kenia. Schrenk hält es aber für gut möglich, dass es noch mehr Stellen sein könnten. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie liegen in der Randzone des tropischen Regenwalds, der sich bedingt durch eine Klimaänderung vor rund acht Millionen Jahren aus den nördlichen und südlichen Zonen entlang des Äquators allmählich zurückzog.

Was blieb, war eine von einzelnen Bäumen überzogene, savannenartige Landschaft, in der sich die an ein Leben in den Bäumen optimal angepassten Menschenaffen neu zurechtfinden mussten. Es war die Geburtsstunde der bipedalen, also zweibeinigen Hominiden. Noch bevor sich ihr Gehirnvolumen auszuweiten begann, lernten sie, mangels genügender Bäume wohl der Not gehorchend, sich auf zwei Beinen fortzubewegen.

Auf breiter Basis hat sich diese Erkenntnis in der knapp 200-jährigen Forschungsgeschichte des Urmenschen erst vor kurzem durchgesetzt, sagt der Wissenschaftshistoriker Peter Bowler. Zwar habe schon Darwin aufgrund rationaler Überlegungen vermutet, dass der Mensch als Erstes von den Bäumen herabgestiegen sei, um sich künftig auf zwei Beinen fortzubewegen. Die Vergrößerung des Gehirns sei erst viel später als Folge der Entwicklung von Kulturtechniken eingetreten. Doch das ging den meisten Wissenschaftlern seiner Zeit und noch manch nachfolgender Generation entschieden zu weit. Und selbst Darwin vertrat diese These nur im privaten Kreis.

„Er war seiner Zeit ein Jahrhundert voraus“, sagt Bowler. Die sehr homozentrierte und von religiösen Vorgaben geprägte Vorstellung, nur ein Hirn ansprechender Größe sei zur menschlichen Evolution überhaupt fähig gewesen, hält sich dennoch bis in unsere Tage. Von den „Kreationisten“, die partout eine göttliche Hand hinter dem evolutionären Geschehen vermuten wollen, ganz zu schweigen: Sie sind heute wissenschaftlich allerdings nicht mehr salonfähig.

Als gelöst betrachtet Friedemann Schrenk heute auch eines der größten Rätsel der Evolution: Das nicht nur beim Menschen, sondern etwa auch beim Urvogel Archaeopterix postulierte Missing Link, das fehlende Bindeglied im Stammbaum, das die entscheidende Lücke zu heutigen Lebewesen füllen könnte. „Wir brauchen nicht mehr danach zu suchen, weil es das Missing Link nicht gibt, sondern nur eine Vielzahl unabhängig und geografisch getrennt voneinander ablaufender evolutionärer Schritte.“ Das sei nicht nur beim Menschen zu beobachten, sondern auch beim Urvogel, von dem es inzwischen mehrere bekannte Ausprägungen gibt.

Könnte sich demnach der Urmensch auch außerhalb des afrikanischen Kontinents entwickelt haben? Schrenk verneint. „Es gibt keinerlei Indizien dafür.“ Die ältesten Funde außerhalb Afrikas stammen aus Java und sind 1,9 Millionen Jahre alt.

Vieles an den mit bunten Pfeilen auf der Weltkarte postulierten Wanderrouten der Urmenschen ist spekulativ. Doch die Hinweise verdichten sich, dass es im Verlauf von Jahrmillionen verschiedene Wellen gegeben haben könnte, die nicht nur aus Afrika hinaus, sondern auch wieder zurück geführt haben. Dabei gab es auf der Zeitschiene auch Überlagerungen. Unsere direkten Vorfahren koexistierten über Jahrmillionen, und es dürfte auch immer wiederholt Vermischungen gekommen sein. Das gilt auch für den Homo neanderthalensis und den Homo sapiens.

Doch weshalb ist nur der Homo sapiens übrig geblieben, während alle anderen Arten, die zum Teil über mehrere Millionen Jahre existiert hatten, vom Erdball verschwanden? Niemand weiß es. Es kann nur spekuliert werden. Etwa über die Entwicklung der Sprache, die sich als der entscheidende Vorteil entpuppt haben könnte, sobald es darum ging, sich zu organisieren, um im Verband jagen zu können oder um geeignete Werkzeuge herzustellen.

Innovativ war schon Homo erectus, der vor 500.000 Jahren Speere von solcher Präzision fertigte, dass sie noch heute als perfekte Jagdwaffe gelten müssten. Ob Homo erectus allerdings sprechen konnte, ist umstritten. Sicher waren die Neanderthaler sprechfähig. Homo sapiens könnte seit ungefähr 120.000 bis 200.000 Jahren dazu in der Lage gewesen sein. Das postulieren zumindest Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Sie wollen den Nachweis erbracht haben, dass FOXP2, ein wahrscheinlich für die Steuerung der Sprechmuskulatur notwendiges Gen, nur beim modernen Menschen vorkommt, nicht aber bei Menschenaffen oder Mäusen.

Das Datierungsverfahren ist nicht unbestritten, basiert es doch auf einem mathematischen Modell, das letztlich nur eine Art Hochrechnung des evolutionären Geschehens in die Vergangenheit darstellt. Das letzte Wort darüber ist sicher noch lange nicht gesprochen. Denn auch die Genforschung muss bei allen viel versprechenden Ansätzen, die DNA als Archivschrank zu nutzen, mit dem Dilemma der Erschließung längst vergangenen Geschehens aus der Gegenwart leben. Und da ist die Gefahr, sich zu irren, nach wie vor groß.

„In hundert Jahren wird man wahrscheinlich schmunzeln über unsere Arbeit am FOXP2-Gen“, meint der Genetiker Wolfgang Enard. „Ich hoffe nur, es wird nicht heißen, wir hätten nur Quatsch produziert.“