: Das schwarze Loch in der Brust
„Der Riese vom Steinfeld“ ist eine Fremdenverkehrs-Oper von Peter Turrini und Friedrich Cerga. In deutscher Erstaufführung hat sie Gregor Horres für das Musiktheater Krefeld und Mönchengladbach inszeniert
Die Akteure sind von Anfang an ziemlich am Ende – die Mutter Anja und der gewesene Hofkapellmeister von Cuxhaven, der geldgierige Klammerschneider und die namenlos bleibende Hauptfigur. Die fühlt fast nur Leere im zu großen Körper. Alles verkrachte Existenzen, verbogene Charaktere. Peter Turrini recherchierte und polierte die Geschichte bei einem Sommerurlaub am Irrsee. Konsequent rahmten die Ausstatterin Kirsten Dephoff und Regisseur Gregor Horres die Folge von 14 Szenen in eine oberösterreichische Ferienlandschaft: unter Postkarten-Himmel ringsum eine riesige Blumenwiese, Sehnsuchtsort des Protagonisten.
Turrini entwarf die Lebensreise, die ein bedrohlich auf 2,52 Meter heranwachsender junger Mann vor gut hundert Jahren antrat, nachdem er ausgiebig gehänselt und gequält worden war. Der Klammerbeutelschneider wird sein Impresario, bricht mit ihm auf aus der Rückständigkeit (in der freilich auch Geborgenheit ist), um ihn in der großen weiten Welt zur Schau zu stellen. Im benachbarten Ried klappt die Vorführung menschlicher Größe nicht. Aussichtsreicher ist der Auftritt in einer Prager Judenschule: die Kleinen dürfen auf die Schultern des Riesen klettern und glauben, dass sie bis zum Schreibtisch des Hofoperndirektors von Wien blicken können. Doch richtig funktioniert die Vermarktung erst bei Wilhelm II., der hoch zu Ross in Berlin von der Zucht eines Riesen-Heeres mit lauter langen Kerls träumt: „Heute gehört uns Deutschland und morgen das blutige Feld“.
Schon der Abstecher nach Westminster zu Victoria erweist sich als Abstieg, weil das der Queen soeben präsentierte Watercloset wichtiger ist (das Empire „steckt in der Scheiße“). Also auf nach Paris! Ins Varieté! Von dort hinunter ins Elend der oberbayerischen Joe-Vanni-TV-Show. Das Wiedersehen, die Liebe des Riesen und der (gleichfalls namenlosen) Kleinen Frau wird brutalstmöglich vermarktet. Doch „das schwarze Loch in der Brust“ wird größer. Der gesundheitlich angeschlagene Hüne verendet nach einer psychoanalytelnden Rückrunde mit der Mutter. Er wird vom Sargschreiner des Heimatdorfs mit der Handsäge auf „Gemeindemaß“ gebracht, damit er in die Kiste passt. Aber so richtig passt er erst als Legende: er wird Fremdenverkehrs-Attraktion. Und die blasen die Stonefield Pictures zu Weltformat auf. Turrini hat ein zartbitteres urlaubsleichtes Libretto hingeworfen.
Friedrich Cerha, bekannt geworden durch die Opern „Baal“ (nach Brecht) und „Rattenfänger“ (nach Zuckmayer) sowie die Komplettierung von Alban Bergs „Lulu“, vermittelt es mit Musik aus dem Geist der Zweiten Wiener Schule, der er in Treue verbunden blieb. Dabei wurden allerdings die dissonanten Momente heruntergepegelt, das melodiöse Espressivo bedeutend gesteigert. Im Krefelder Theater balanciert Kapellmeister Graham Jackson die Ambivalenz auf erstaunlich hohem Niveau aus. Christoph Erpenbeck überzeugt stimmlich wie als Darsteller in der hochgestelzten Titelpartie. Jeannette Wernecke, das kleine energische Persönchen, gewinnt immer wieder akustische Lufthoheit über Schanktische und Sommerfrische. “Der Riese vom Steinfeld“ ist eine neue Opéra comique, die gut ankommt mit der dunklen Unterfütterung des heiter-kritisch verhandelten Glanzes der großen und kleinen Scheinwelten. Und trotz (oder gerade wegen) des latenten Akademismus der Musik. Cerhas Ton steht auf halbem Weg zwischen der musikalischen Gegenwart und der bösartigen Idylle von einst: „Die Aufklärung beginnt hinter den Grenzen des Dorfes“.
FRIEDER REININGHAUS