: Jahrmarkt ohne Eitelkeiten
Zusammenbruch im Wandel: Minze Tummescheidts schöne Dokumentation „Jarmark Europa“ erzählt im Forum vom größten Polenmarkt Polens und den Menschen, die bis aus Sibirien anreisen, um ihre Waren zu verkaufen
Wahnsinnig lang scheint es her zu sein, dass der Kommunismus starb, die Sowjetunion zerbrach, die Grenzen zwischen Ost- und West etwas durchlässiger wurden und jeder neugierig gen Osten fuhr, um zu sehen, was dort so los ist. Viele Journalisten besuchten die riesigen Basare, auf denen von Osten her kommende Händler, die zuvor meist etwas ganz anderes gemacht hatten, ihre Waren verkauften und berichteten in Filmen und Reportagen davon.
Auf Russisch werden diese Protagonisten einer riesigen Schattenökonomie „Tschelnoki“ (Weberschiffchen) genannt, und der westliche Brückenkopf dieser Basare lag ab November 1989 ein Jahr lang in der Nähe des Potsdamer Platzes und wurde „Polenmarkt“ genannt. Viele weitere gab es in Polen, der Ukraine und im Westen Russlands. Manche Händler kamen sogar aus der Mongolei, um ihre Waren zu verkaufen. Nachdem es eine Zeit lang unter westlichen Journalisten Mode war, über diese Märkte zu berichten, wendete man sich wieder anderen Themen zu. Die Märkte aber blieben.
Von einem dieser Basare, dem in dem riesigen Warschauer Stadion „Dziesięciolecia“ untergebrachten „Jarmark Europa“ berichtet Minze Tummescheits wunderschöner gleichnamiger Dokumentarfilm, dem man wohltuend anmerkt, dass die 36-jährige Regisseurin nicht nur kurz mal ins Basargeschehen reingeschnuppert hat, um daraus einen bunten Film zu machen, sondern den Markt schon seit ihrer Studienzeit in Warschau Anfang der Neunzigerjahre kennt.
„Jarmark Europa“ erzählt sehr persönlich, aber gänzlich uneitel von der Zeit zwischen 1999 und Herbst 2003. Die Regisseurin ist sich dabei stets der grundsätzlichen Distanz bewusst, die sie von denen trennt, die sie filmt. Sie begegnet ihren Protagonistinnen mit großem Respekt und beschreibt manche heiklen Dinge (Schmuggel etc.) aus dem Off, statt sie zu zeigen. Im Mittelpunkt ihres Films stehen dabei zwei Frauen: Die aus Brest kommende Swetlana Anatoljewna, eine ehemalige Musiklehrerin, betreibt auf dem Basar einen Kiosk mit russischer Literatur, Musik und Videofilmen. Ihre Kundschaft besteht aus russischsprachigen Händlern, die von fünf Uhr morgens bis mittags um zwölf arbeiten und den Rest des Tages ihre Zeit irgendwie totschlagen müssen.
Die aus dem siebenhundert Kilometer von Moskau entfernten Penza kommende Rentnerin Kaleria Michajlowna, die früher eine Poliklinik leitete, reist alle zwei Monate mit ihrer Freundin Valentina zum „Jarmark Europa“, um hier gemischte Kleinwaren zu verkaufen. Die Filmemacherin begleitet ihre lebensklugen Heldinnen auf deren Reisen. Mit genauem Blick berichtet sie von kleineren oder größeren Veränderungen auf dem Basar. Die Bilder ihres Films, das Marktgeschehen in der Morgendämmerung, die Gesichter der Händler, stimmen sehnsüchtig. Auch die Tonspur – O-Töne und russische Popmusik vor allem – ist großartig. DETLEF KUHLBRODT
Heute, 14.00 Uhr, Babylon, morgen 17.30 Uhr, Arsenal