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Archiv-Artikel

Hier ist besetzt

Wie es ist, bei der allwöchentlichen Leseveranstaltung „Dr. Seltsams Frühschoppen“ nicht früh genug da zu sein und sich kreischend um die letzten Plätze balgen zu müssen

Das Publikum bei „Dr. Seltsams Frühschoppen“ in der Kalkscheune ist eigentlich ganz nett. Es hört aufmerksam zu, versteht viele Pointen und erscheint immer rechtzeitig. Extrem rechtzeitig sogar. Um eins beginnt die Veranstaltung und um zwölf sind bereits alle Stühle besetzt. Dabei ist noch fast niemand da. Die wenigen Leute, die da sind, haben zu Hause ihre Kleiderschränke leer geräumt oder unterwegs skrupellos Altkleidercontainer geplündert. Sie haben den gesamten Plunder mitgebracht und auf sämtliche Lehnen verteilt. Überall hängen Pullover und Schals. Auch alte Wolldecken sind zu sehen, Unterwäsche und schließlich, Prototypen des Platzhalters, die Badetücher.

„Ist da noch frei?“, fragen wir die wenigen Leute und deuten auf die mit Klamotten behängten Stühle an ihren Tischen.

„Tut uns Leid“, sagen die wenigen Leute, „da kommen noch welche – wir haben den Auftrag, die Plätze frei zu halten.“ Andere der wenigen Leute sind unfreundlicher. Sie sind gekommen, um sich zu amüsieren, und nicht, um fremden Bittstellern ihre penetranten Fragen zu beantworten. Obendrein setzt sie ihr Auftrag mächtig unter Stress. „Nä“, sagen diese wenigen Leute kurz, „is nich frei!“ Wir fragen uns weiter durch. Da heute turnusgemäß „rauchfreier Sonntag“ ist, hoffen wir, dass ein paar der wenigen Leute den Kram nur zum Auslüften mitgebracht und aufgehängt haben. Wir könnten ihnen ja versprechen, während wir auf den Stühlen sitzen, ihn die ganze Zeit über schön ausgebreitet hochzuhalten. „Sind die noch frei?“, deute ich deshalb am nächsten Tisch auf die acht dicht an dicht geschobenen leeren Stühle, die dort von zwei Personen bewacht werden. Zum Teil sind sogar die Lehnen leer, doch über ihnen dräut lastend der dunkle Geist der Vergeblichkeit und kündet vom permanenten Besetztsein, per se, hier und überall und in alle Ewigkeit.

„Wir warten noch auf jemanden“, sagen die wenigen Leute, „versuchen Sie es um kurz nach eins noch mal!“ Nach dem zwölften Versuch dieser Art glaube ich längst nicht mehr, dass die alle verabredet sind. Die meisten hoffen wahrscheinlich nur, dass zufällig gerade hier und heute irgendjemand vorbeikommt, den sie von früher kennen: der Nachbar, die Kassiererin oder die medizinisch-technische Assistentin aus Hannover, der man im Kreta-Urlaub am letzten Abend kurz mit dem Kopf zugenickt hat.

Damals im Urlaub war’s ja noch viel schwieriger als hier in der Kalkscheune: Man musste immer schon nachts an den Swimming-Pool und alle Liegen für den nächsten Morgen mit dem Badetuch kennzeichnen – es hätte ja sein können, daß der Kassierer aus Hannover vorbeikommt oder die Nachbarin vom Schulfreund. Ich glaube übrigens nicht, daß es am Zweiten Weltkrieg liegt, dass wir Deutschen relativ unbeliebt sind. Das sind doch olle Kamellen, das ist Schnee von gestern – Schwamm drüber und Grabstein drauf. Schuld dürfte eher diese stark gewöhnungsbedürftige Mentalität sein, wie ein satter Marder, der im Hühnerstall ohne ersichtlichen Grund sämtlichen Vögeln die Kehlen durchbeißt, zunächst immer erst mal alles an sich zu raffen, was man eventuell irgendwann einmal brauchen könnte oder auch nicht: Stühle, Liegen, Sonnenschirme, Kalkscheunen, Strände, Länder …

„Asoziales Gesindel“, zische ich böse – das ohnmächtige Gekläff des Verlierers. Es ist kurz vor eins, wir stehen in einem zugigen Winkel vorm Notausgang und in der Kalkscheune kontrolliert eine Hand voll Großgrundbesitzer 80 Prozent des Bodens. Als die Veranstaltung beginnt, wendet sich das Blatt: Das Besetzungsrecht ist aufgehoben, die Stühle sind jetzt frei und mehrere hundert Verlierer balgen sich in einer Art „Reise nach Jerusalem“ kreischend um die Plätze. Ein halbes Dutzend Stühle geht dabei an uns – wir warten noch auf jemanden. ULI HANNEMANN

Jeden Sonntag, 13 Uhr, Kalkscheune, Johannisstr. 1, Mitte