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Archiv-Artikel

Kindheitstrauma Krieg

Irak 2003, Kosovo 1999, Chile 1973, Deutschland 1945: Wenn Kinder Gewalt begegnen, bleiben tiefe seelische Narben

von KATHARINA KOUFEN

Visari ist drei Jahre alt. Er fährt mit seinem Plastiktraktor umher und spricht nicht. Reagiert auch nicht auf seine Betreuerin, die ihm zärtlich über die Wange streicht. Nimmt keinen Kontakt auf mit den anderen Kindern, die um ihn herum spielen. Visari hat miterlebt, wie seine Eltern im Kosovokrieg getötet wurden. Niemand weiß, was genau er gesehen hat. Aber danach hat er aufgehört zu reden. Er wohnt bei einer Tante und geht jeden Tag in ein Zentrum für kriegstraumatisierte Kinder.

Zwei deutsche Sozialarbeiter haben das Zentrum „Gabriel Grüner“ im Kosovo im Jahr 2000, ein Jahr nach Kriegsende, besucht und Visaris Geschichte aufgeschrieben (siehe Kasten). Sie ist nur eine von vielen schrecklichen Geschichten, die Kinder während des Balkankrieges erlebten und die dazu führten, dass sie nicht mehr sprechen, nachts im Traum schreien, einnässen, aggressiv werden, sich in der Schule nicht mehr konzentrieren können.

„Kinder, die Krieg erleben, machen zwei Erfahrungen: Die Außenwelt ist zerstörerisch und böse. Und: Meine Eltern haben mich nicht dagegen schützen können“, sagt Hubertus Adam, Oberarzt der Ambulanz für Flüchtlingskinder in der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. „Das sind zwei Primärerfahrungen, die gegen die Grunderfahrungen sprechen, die kleine Kinder normalerweise machen, überall auf der Welt.“

Ein Teil der Kinder hat im Krieg den Tod von Angehörigen erlebt, Folter, Vergewaltigung, die Zerstörung des eigenen Zuhauses. „Solche Dinge überschreiten die seelische Verarbeitungsfähigkeit“, sagt Karla Misek-Schneider, Professorin für Psychologie an der Fachhochschule Köln. „Bei diesen Kindern finden sich Angst und Panikreaktionen, Misstrauen oder Beziehungslosigkeit anderen Menschen gegenüber.“ Die Erinnerungen an das Erlebte kehren immer wieder, drängen sich auf.

Gedanken, die ich nicht denken will

Ein Drittel der Kinder mit traumatischen Erfahrungen im Bosnienkrieg litten laut Unicef noch zwei Jahre nach Kriegsende unter Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche und Verhaltensauffälligkeiten. Im Gaza-Streifen sind laut einer Studie des palästinensischen Psychiaters Ejad al-Sarradsch 35 Prozent aller Kinder unter 15 von der Gewalt um sie herum traumatisiert, in Afghanistan sind es nach Expertenmeinung mehr als die Hälfte.

Im Hamburger Zentrum für Flüchtlingskinder behandelt der Psychologe Adam noch heute erwachsene chilenische Patienten, die unter Angstzuständen leiden – eine Folge der Pinochet-Diktatur der 70er- bis 90er-Jahre.

Im Irak rechnet Unicef damit, dass zehn Prozent aller Kinder im Grundschulalter, etwa 500.000, traumatisiert sein werden, ein Prozent davon schwer. Mitte März führte das Kinderhilfswerk unter 217 irakischen Schulkindern eine Umfrage durch. Heraus kam, dass wegen des bevorstehenden Krieges 38 Prozent unter Albträumen litten, 37 Prozent „das Leben in den vergangenen vier Wochen die meiste Zeit nicht lebenswert“ fanden und 43 Gedanken denken, die sie nicht denken wollen.

Auch Deutsche, die die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs als Kinder erlebt haben, leiden zum Teil bis heute an den Spätfolgen. Nach dem Krieg wurde das Thema zum Tabu erklärt: Das, was die anderen erlitten hatten, schien so viel schlimmer, dass frühkindliche Traumata im Nachkriegsdeutschland als harmlos abgetan wurden. Die 60-jährige Ute Becker etwa wurde während eines Luftangriffs auf Berlin geboren. Das Klinikpersonal verschwand im Luftschutzkeller, ließ die gebärende Mutter mit ihrer Angst allein. Ute Becker gerät heute noch in Panik, wenn sie in ihrer Nähe laute, tieffrequente Töne hört. Sie kann auf keine Veranstaltung gehen, auf der Musik dröhnt.

„Auch Säuglinge kriegen das Leben um sich herum schon mit“, sagt Hubertus Adam. Sie merken, wenn die Mutter ihnen weniger Aufmerksamkeit widmet als sonst. Sie reagieren auf Hektik. Und wie größere Kinder erleben sie, wie ihre Eltern Angst haben. Sogar ungeborene Kinder blieben nicht von der Kriegserfahrung verschont, erklärt Adam: „Wenn heute eine Frau in Bagdad im sechsten oder siebten Monat schwanger ist, dann ist das Baby natürlich davon belastet.“

Auch wenn Kinder noch gar nicht verstehen, was Krieg ist, leiden sie unter dem Lärm von Schüssen und Bombardierungen. Ein Unicef-Mitarbeiter aus Bagdad erzählte, vor ein paar Tagen sei in der Nähe seines Hauses eine Cruise Missile eingeschlagen. Daraufhin habe sein neun Jahre alter Sohn mehrere Stunden lang ununterbrochen geschrien. „Wir mussten ihm ein Beruhigungsmittel geben.“

Wie stark Kinder unter traumatischen Erlebnissen leiden, hängt jedoch weniger von der Schwere des Erlebnisses selbst ab als vom Umfeld in der Zeit danach. „Auch schwerst traumatisierte Kinder, die nach dem Krieg in funktionierenden Familien weiterlebten, geht es besser, als wenn die Erlebnisse weniger schlimm waren, die Familie aber auseinander brach“, sagt Adam.

Der jüdische Psychoanalytiker Hans Keilson forschte nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang an Holocaust-Überlebenden und kam zu dem Ergebnis, dass die Phase gleich nach dem Krieg die wichtigste bei der Bewältigung des Traumas war.

Und Anna Freud untersuchte in den 40er-Jahren Kleinkinder, die während der Bombenangriffe auf London von ihren Eltern in den Luftschutzkeller mitgenommen wurden, und verglich sie mit Kindern, die ohne Eltern aufs Land geschickt wurden. Ihr Ergebnis: Für die Kinder war es weniger belastend, mit einer Bezugsperson die Bombenangriffe zu erleben als den Trennungsschock zu verkraften.

Schnell so etwas wie Alltag schaffen

Wichtig ist für die Kinder, dass sie möglichst schnell wieder so etwas wie Alltag erleben. „Die Arbeit mit irakischen Kindern wird deshalb zuallererst versuchen, Alltag herzustellen“, sagt Unicef-Sprecherin Helga Kuhn. Das Hilfswerk baut gleich zu Anfang auch immer Schulen wieder auf, sogar in Flüchtlingslagern. So etwa derzeit in den Lagern im Nordirak. „Es geht erst einmal gar nicht darum, rechnen und schreiben zu lernen“, so Kuhn. „Wir lassen Lehrer vor Ort psychologisch schulen, damit sie Symptome bei den Kindern erkennen und Elemente in den Unterricht einarbeiten, die die Verarbeitung des Erlebten erleichtern.“

Allerdings, das weiß man auch bei Unicef, wird es unmöglich sein, 500.000 traumatisierte Kinder ausreichend zu betreuen. Zumal aus den Spendengeldern zunächst Nahrungsmittel und Medikamente gekauft werden – das hat im Moment Priorität. Kinderpsychologe Adam warnt aber, den „seelischen Wiederaufbau“ zu vernachlässigen: „Hass, Rache und Kampf sind die Folgen solcher Erlebnisse, wenn wir diese Kinder nicht stabilisieren. Dann sind die Opfer von heute die Täter von morgen.“