Schluss mit dem eitlen Gejammer!

Es ist ein Kreuz: Älter werden wir alle – doch keine will es werden. Denn die verbleibende Lebenszeit wird immer kürzer – und die Chancen zugleich geringer. Persönliche Anmerkungen jenseits der Klage über Falten und Kinnbehaarung

von SUSANNE STIEFEL

Okay, eine typische Alterserscheinung. Ein banaler Akt des Auflehnens. Sich noch einmal, frei nach Marianne Faithfull, warmen Wind durch ihr Haar wehen zu lassen, bevor es völlig grau ist. Obwohl man das nicht sehen kann, weil es schon lange gefärbt ist. Vielleicht nicht nach Paris brettern, sondern nach Rom, ja, Rom wäre schön. Natürlich fühle ich mich nicht alt, jedenfalls nicht so wie alle, die älter werden. Ich habe mir ein Cabrio bestellt. Na und?

Alter ist eine sehr persönliche Sache. Manche haben schon mit 25 Allegra-öffentlich ihre Quarterlifecrisis. Wie affig! Manche sehen das Ende der Welt heraufdämmern, wenn sie die ersten Falten um Augen und Mund entdecken. Wenn du so schreckhaft bist, kann dir das schon mit zwanzig passieren. Andere, wenn die ersten Haare am Kinn sprießen und du täglich am Zupfen bist. Damit geht’s dann um 35 rum los wie bei meiner Freudin Annette, was zu bizarren Dialogen während eines Mozartkonzerts führte: „Ich lass mir die Haare am Kinn jetzt weglasern“, flüstert sie. „Was, sind die mehr geworden?“, raune ich zurück. „Ich könnte als Burt Lancaster gehen.“ Kichern. „Tut das weh?“ Die Antwort ist nicht mehr zu hören, weil es von hinten zischt: „Können Sie nicht ruhig sein?“ Es ist nicht wirklich lustig. Aber, ehrlich, auch nicht wirklich dramatisch.

Jeder kennt diese Schübe von Melancholie. Die Männer, die sich beim Altherrenfußball wie junge Götter fühlen, bis das Kreuzband reißt. Oder sich, gepresst in diese unvorteilhaften Wurstpellen, auf dem Fahrrad dieselbe Bergleistung abverlangen wie mit sweet little twenty und erleben müssen, wie so ein juveniler Echtzwanziger an ihnen vorbeizieht. Die Frauen, die vor dem Spiegel plötzlich merken, dass sie wie ihre Mutter aussehen. Oder in der Menopause ins Schwitzen kommen. Harte Arbeit, die Sache mit dem Alter.

Und außerdem ungerecht. Den Jungs laufen noch mit sechzig die jungen Dinger nach, während wir so grässlich verwelken, dass uns kein Mann mehr anschaut, klagen die Frauen. Und außerdem kann er noch mit sechzig ein Kind zeugen, während bei uns Mitte vierzig Schluss ist. Aber mal ehrlich: Wer will mit sechzig noch Mutter werden? Und außerdem: Wer hat gesagt, dass das Leben gerecht ist?

Bei mir war’s die Vier. Diese Zahl vor dem Lebensalter hatte etwas beängstigend Einschränkendes: Du kannst nicht mehr so leicht den Job wechseln, die Kinderfrage hat sich durch Nichtentscheiden entschieden. Du kannst dich nicht mehr als Weltmeisterin im Tiefseetauchen ohne Sauerstoffgerät versuchen, und Bauarbeiter pfeifen auch nicht mehr, wenn du vorbeiläufst. Alter ist eine Einschränkung der Optionen. Auf manche kann ich verzichten.

Existenzieller wird die Sache mit dem Job. Mit vierzig bist du da schon verdammt alt, und die Statistik sagt dir, dass es in sechzig Prozent aller Betriebe keine Beschäftigen mehr gibt, die über fünfzig sind. Altes Eisen, lautet die vernichtende Diagnose, die dich ins gesellschaftliche Aus befördert. Dabei ist der Kopf noch fit und, wie wir meinen, mit Erfahrungen und Wissen satt möbliert. Wer mit fünfzig arbeitslos wird, kann sich gleich auf Langzeitarbeitslosigkeit einstellen.

Beispiele? Bitte sehr. Da ist die Moderatorin, die mit vierzig nicht mehr vor die Kamera darf, weil Falten (weiblich) und Falten (männlich) nicht dasselbe sind. Da ist die 66-Jährige Exchefredakteurin, die auf einer Party als „Rentnerin“ vorgestellt wird und feststellt, dass sich deshalb ihre Gesprächspartner sofort abwenden.

Ausgemustert. Abgemeiert. Abgetreten. Das tut richtig fies weh.

Richtig weh tut’s auch, wenn’s anfängt, wehzutun. Wenn die Knorpel schwinden und nur den Schmerz zurücklassen. Wenn das Herz nicht mehr mitmacht, der Kopf vergesslich wird und das größte Schreckensgespenst auftaucht: die Angst vor der Unmündigkeit. Die Angst, seine Menschenwürde zu verlieren. Die Angst, ein Pflegefall zu werden. Alt und einsam, alt und arm zu sein.

Der ganze Kram mit den schlaffen Oberarmen, mit Zellulitis und dünnem Haupthaar hat doch etwas sehr Kokettes. Die Schönheit schwindet dahin, man ist älter und der Sex wird gemächlicher, okay. Man kann sich liften, straffen, chirurgisch zurechtzupfen lassen. Man kann sich Hormone reinpfeifen, sich aufs Antiagingross setzen und die Schönheitsindustrie finanzieren: geschenkt.

Man kann sich trefflich über den Jugendlichkeitswahn unserer Gesellschaft aufregen und ihn geißeln: so richtig wie müßig. Älter wird man von der Geburt an. So ist da nun mal. Klingt ein bisschen evangelisch, ich weiß. Aber manchmal geht mir das allgemeine präpotente Altersgejammer auf den Wecker. Das meiste ist doch Jammern vor der Zeit und damit Jammern auf hohem Niveau.

Seitdem bin ich auf der Suche nach Vorbildern. Alter braucht Vorbilder wie die Jugend. Andere sind doch auch schon alt geworden. Isabella Nadolny etwa. Die 86-jährige Schriftstellerin und Mutter des Erfolgsschriftstellers Sten Nadolny hat sich mit mir einen Nachmittag lang Gedanken über das Alter gemacht. Am meisten hatte die kluge alte Dame Schwierigkeiten mit der Frage, ob es etwas Schönes im Alter gibt. „Ich ruf Sie an, wenn mir etwas einfällt“, sagte sie und ihre Augen blitzten spöttisch. Sie hat mich nie angerufen.

Aber sie hat mir die Anekdote erzählt vom Baron, der auf die Frage, was ihn im Alter erfreue, antwortete: „Mit vierzig war es ein schönes Weib. Mit fünfzig ein schnelles Pferd. Und seit sechzig bin ich froh, wenn mein Nierenleiden etwas nachlässt.“ Manchmal steckt die Wahrheit in Anekdoten.

Isabella Nadolny hat mich mitgenommen in die Welt des Alters. Denn diese Frau, die in den Fünzigerjahren den Bestsellerroman „Ein Baum wächst übers Dach“ geschrieben hat, ist eine wunderbare Erzählerin mit einem Sinn für Pointen. Und dabei schonungslos und brutal.

Wenn morgens um vier die Gespenster auf der Bettkante sitzen und ihr einflüstern: „Du hast alles verkehrt gemacht im Leben. Warum hast du dich nach dem Tod deines Mannes nicht vergiftet? Warum bist du bei der Geburt nicht ertränkt worden?“

Wenn die Trommeln des Schlussakkords alles übertönen und Glück in der Erinnerung besteht. Ein beschränktes Glück. Glück auf Vorrat gibt es nicht, „schade, dass man Glück nicht einkochen kann“, sagt Isabella Nadolny, „das wäre so praktisch: einfach Gummi auf und zipp.“ Is’ nix mit zipp.

Aber eine wie sie muss das Alter weder beschönigen noch bejammern. Selbstmitleid hat bei ihr keinen Platz. Spott schon. Das finde ich mutig.

Dagegen ist die Debatte um die verlorene Attraktivität doch ziemlich weinerlich. Es gibt noch Dinge, die gehen tiefer als Runzeln. Krankheit etwa, Abschied, Tod. Man kann darüber reden, ohne dass es philosophisch werden muss. Etwa in der Alltagsphilosophie der Bayern, hier, wo die Alten auf die Frage: „Wie geht’s?“ schon mal antworten: „Ja mei, mir geh’n halt weiter.“ Huch, der Tod? Ja, der gehört auch dazu.

Wirklich nichts Schönes im Alter? Vielleicht die Hoffnung auf ein bisschen Narrenfreiheit, mal sagen können, was man will, ohne dass die Börsenkurse nach unten gehen. Okay, bei unsereinem passiert das nicht, das hat auch Edzard Reuter, siebzig Jahre, gesagt. Der Exdaimlerchef, der inzwischen basisdemokratisch orientierte Jungunternehmer ein bisschen in den Kapitalismus einführt und so nebenbei den Turbokapitalismus kritisiert. Das tut manchem noch weh und ihm womöglich gut.

Oder der Stuttgarter Altoberbürgermeister Manfred Rommel, 75, Sohn des legendären Wüstenfuchses. Der verordnet sich, als Therapie gegen seine Parkinsonerkrankung, öffentliche Auftritte und sagt lapidar: „Ehret die Alten, bevor sie erkalten.“ Recht hat er. Das Alter ist unberechenbar. Die Alten auch. Hoch lebe die Narrenfreiheit.

P. S. Mein Cabrio wird in spätestens vier Wochen geliefert.

SUSANNE STIEFEL, Jahrgang 1957, lebt in Stuttgart und ist Chefreporterin bei Sonntag aktuell