Noblesse oblige

Holm von Czettritz wurde 1939 in Berlin geboren. Die ausgebombte fünfköpfige Familie wird nach Mühlhausen in Thüringen evakuiert, wo von Czettritz seine frühe Kindheit verbringt. 1948 gelingt der Familie die Flucht über die Zonengrenze nach Hamburg. Nachdem sein Vater ihn drei Jahre zu Hause unterrichtet hat, geht von Czettritz fünf Jahre auf eine staatliche Schule, die er 1953 wieder verlässt, um eine private Kunstschule zu besuchen.

Mit einem privat geführten Kinderheim hält die Mutter die Familie über Wasser. Nach dem Schulabschluss erhält von Czettritz als Sechzehnjähriger seine blendend bezahlte erste Anstellung in der Werbezentrale von Hertie, wo er das Corporate Design der Hertie-Gruppe und der daran angeschlossenen Kaufhäuser entwirft. Er wohnt zu Hause und liefert einen Teil des verdienten Geldes ab.

1956 zieht die Familie nach München, wo Holm seinen Wehrdienst leistet. Danach nimmt er ein möbliertes Zimmer in der Maximilianstraße. Möbel, Boden und Wände streicht er ganz in Grau. „Nobel und bescheiden in einem“, befindet der Snob – eine Mischung, die ihm bis heute zusagt. Auf einer Party lernt er den Journalistenanwärter Andreas Baader kennen, mit dem er sich anfreundet und um die Häuser zieht.

Als die Rückkehr in den Beruf nicht auf Anhieb klappt, experimentiert er zunächst als Staubsaugervertreter und heuert dann bei Inselfilm als Storyboardzeichner an. Hier lernt er seine Frau kennen, die er 1963 heiratet und mit der er zwei Töchter und zwei Enkel hat. Während die Studenten auf die Straße gehen, macht von Czettritz Karriere bei der Hamburger Agentur Kreativ Studio. Nach der sehr erfolgreichen Kampagne für Johnnie Walker wird er von der renommierten Agentur Wilkens als Creativ Director abgeworben.

Nach der gewaltsamen Befreiung des inzwischen als Kaufhausbrandstifter festgenommenen Andreas Baader bildet sich die Rote Armee Fraktion. Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ formuliert zeitgleich eine ästhetische Kritik der Verhältnisse: Makelloses Design verbirgt als dünne Haut ein nach außen perfektes, nach innen störanfälliges System. Von Czettritz entwirft surrealistische Werbeszenarien für Rasierer und Ultraleichtzigaretten. Extensiver Konsum von Wodka, Captagon und anderen Rausch- und Aufputschmitteln wird zur ungesunden Gewohnheit.

Um 1973 sieht von Czettritz Andreas Baader zum letzten Mal und rät ihm von einem „Brush-up“ des RAF-Logos ab, bevor er dem Schriftsteller und Aussteiger Günther Steffens mit Frau und Kindern nach Spanien folgt. Als freier Künstler entdeckt er ein neues Sujet: Er malt Möbel in Öl, Stühle, Fernsehapparate, Sofas, Radios. Von Czettritz: „Die Ironie bestand darin, dass die saftig aussehen, man aber nicht drauf sitzen, sie nur an die Wand stellen kann.“ Als sein Galerist Hans Meier nach zwei Jahren abspringt, bröckeln die Einkünfte, von Czettritz geht mit Famile zurück nach Hamburg und in die Werbung. Die Ehe wird bald darauf geschieden.

Von Czettritz arbeitet heute freiberuflich als Storyboardzeichner. Mitte der Neunziger startet er eine zweite Karriere als Illustrator und beliefert seither Publikationen wie Welt am Sonntag, Hör zu und Gala mit seinen frech hingetuschten Oeuvres von Personen und Ereignissen des öffentlichen Lebens. Von Czettritz: „Ich kriege heute ein Thema, und bis morgen mach ich was dazu.“ Gesellschaftskritik elegant – scharf geschossen wird nicht.

NIKE BREYER