Die Stammtische ziehen weiter

Heute wollen ehemalige Wähler keine Handzettel mehr. Manchmal beginnen sie sogar zu schreien

AUS HAMBURG KIRSTEN KÜPPERS

An einem Freitagabend im Wahlkampf treffen sich vier Frauen und fünfzehn Männer unter einer müden Papiergirlande zum Leiden. Sie sitzen an einem viel zu langen Tisch in einem viel zu großen Saal in einem vergilbten Hotel im Hamburger Bezirk Langenhorn. „Herbe Enttäuschungen und Rückschläge haben wir erlitten“, sagt ein Mann in dunklem Anzug ins Mikrofon. Es ist Dirk Nockemann, der Innensenator von Hamburg und ihr Spitzenkandidat. „Wir müssen uns stabilisieren.“ Der Lautsprecher pfeift. Nockemann legt das Mikrofon weg. Sie haben einen zu großen Raum gemietet, sie sind zu wenige, er guckt auf die Tischdecke, er braucht nicht einmal mehr eine Verstärkeranlage.

Es hat eine Zeit gegeben, da waren die Bezirksversammlungen hier im Hotel „Tomford“ in Langenhorn mit 500 Menschen voll. Es war Sommer, und die Leute standen in Trauben an den Fenstern und vor der Tür, sie tranken Bier, und eine schöne Siegessicherheit hatte sich über die Menge gelegt. Das war die Zeit, als Ronald Schill noch dabei war. Der Mann, der aus unzufriedenen Leuten eine Partei machte, der zeigte, dass es Möglichkeiten gibt. Einer, der sie zu Abgeordneten beförderte und der dann alles kaputtschlug mit seinen unkontrollierten Launen, so dass sie jetzt hier sitzen müssen in einem leeren Saal, und Dirk Nockemann sagt: „Schill ist unser Hauptgegner.“

Es ist nicht einfach für Nockemann. Er redet in eine graue Enttäuschung hinein und versucht mit Sätzen wie „Moscheen sind Rekrutierungsanstalten für islamische Terroristen“ wenigstens zusammenzuklauben, was von der Partei hier in Langenhorn noch übrig ist. Das ist nicht viel. Eine alte Frau mit dunklen Brillengläsern raunzt: „Ich habe zwei Kinder zwischen Päderasten und Mördern großgezogen, und ich weiß wirklich nicht mehr, warum ich noch Steuern zahlen soll, wenn für jeden abgeschobenen Asylanten drei neue an der nächsten Ecke stehen“. Nockemann nickt, er muss es jetzt allen Recht machen. Er guckt in die Runde. Er weiß, dass es nicht reicht.

Nicht einmal einen vernünftigen Namen haben sie noch. „Partei Rechtsstaatliche Offensive“ heißen sie jetzt. Der Name ist zu lang als dass sich die Leute ihn merken und die Zeitungen ihn schreiben. Keiner hat sich eine Abkürzung ausgedacht, und jetzt ist es zu spät. Das Kürzel „Pro“ dürfen sie nicht verwenden. Schon im Jahr 2001 hat ein Gericht das untersagt, damit die Partei nicht mit der Pro-DM-Partei des Millionärs Bolko Hoffmann verwechselt wird. Und nun hat ihnen auch noch ein Gericht verboten, das Wort „Schill“ auf ihre Plakate zu drucken, was ja immerhin ein Hinweis für die Wähler gewesen wäre. Die Männer und Frauen in Langenhorn sitzen mit lahmen Gesichtern am Tisch. Es ist die Schwere, die kommt, wenn man merkt, dass die Zukunft nicht mehr auf einen wartet.

Es liegt auch an diesen kalten Wahlkampfterminen, die sie jetzt immer haben. Wo sie zu viert oder zu fünft im Schneematsch stehen mit nassen Füssen vor irgendeiner Würstchenbude in einer Fußgängerzone und Handzettel verteilen an Menschen, die diese Informationen nicht haben wollen. Manchmal werden sie sogar angeschrien. Es sind ehemalige Wähler, Leute, die einmal auf ihrer Seite standen, Rentner mit Hut und Lodenmantel, die jetzt plötzlich anhalten und brüllen: „Gott sei Dank seid ihr weg vom Fenster! Ihr habt die Leute belogen und betrogen! Ihr habt euch nur zwei Jahre lang durchgefressen und Quatsch geredet!“ Die Wut ist laut, jetzt ist sie da.

Mit 19,4 Prozent ist Schill mit seiner Partei vor gut zwei Jahren in die Hamburger Bürgerschaft eingezogen. Jeder Fünfte in der Stadt hat ihn gewählt. Aber jetzt laufen die eleganten Damen aus Blankenese mit hochgeschlagenem Mantelkragen und steifen Tüten in der Hand einfach an den Ständen der Partei Rechtsstaatliche Offensive in der Mönkebergstraße vorbei.

Aus einem kühnen Anflug von Trotz und dem Verlangen nach Sauberkeit haben sie damals der Partei ihre Stimme gegeben. Aber dann hat sich Schill danebenbenommen, er hat im Bundestag getobt, er hat das Privatleben des CDU-Bürgermeisters Ole von Beust an die Öffentlichkeit gezerrt. Hamburg ist eine höfliche Stadt. Die Menschen mögen keine unbeherrschten Ausbrüche. Die eleganten Damen mit ihren teuren Tüten kommen jetzt nicht mehr, sie gucken an den Männern mit den Handzetteln einfach vorbei, sie wollen nicht einmal einen Kugelschreiber.

Es macht nichts einfacher, aber es ist wenigstens eine Genugtuung, dass es den anderen auch nicht besser geht. Zum Beispiel vor dem Einkaufszentrum in Niendorf. Nachdem die Partei Rechtsstaatliche Offensive ihr prominentestes Mitglied Ronald Schill ausgeschlossen hat, ist Schill im Januar zu seinem früheren Gegner, dem Millionär Bolko Hoffmann übergelaufen. Mit dessen Partei Pro DM hofft Schill bei der Wahl auf neue Stimmen, und tatsächlich gehen ja Geld und Erfolg bisweilen wunderbare Verbindungen ein.

Doch die Pro-DM-Partei hat nur wenige Wahlkämpfer losgeschickt. Und die vier, die vor dem Einkaufszentrum in Niendorf am Eingang stehen und frieren, werden auch nicht geschont. Sie stehen in der Zugluft und winken mit ihren Broschüren. „Mit Sicherheit Schill“ steht auf den Umschlägen. Aber die Passanten laufen nur weg. Eine Frau schimpft im Vorbeigehen: „Die Drogenszene, die Schill am Hauptbahnhof bekämpfen wollte, hat sich doch nur in die S-Bahn verlegt.“ Die anderen sind zu wütend für Argumente. „Hau ab mit dem Spinner!“ oder „Den Politikern kann man nicht trauen“ ist noch das Freundlichste, was sie rufen. Nach zwanzig Minuten geht ein Pro-DM-Anhänger zum Parkplatz und holt die Thermoskanne aus dem Kofferraum.

Als Ronald Schill in die Politik ging, erzielte er mit Themen wie Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung Wirkung. Er traf die Stimmung an vielen Abendbrottischen, die schlechte Laune in vielen Wohnzimmersesseln. Die Hamburger sahen ihre Stadt als großes Durcheinander, in das man Ordnung bringen musste. Als Schill jedoch die Maßstäbe verlor, hörten die Menschen an den Tischen und in den Sesseln auf, ihm zu glauben. Nun sind sie böse auf Schill und auf alle anderen auch. „Mit Sicherheit Schill“ ist kein Slogan mehr, der funktioniert. Bei einer Wahlveranstaltung im Bezirk Harburg soll Ronald Schill vor kurzem vom Saal sogar ausgebuht worden sein, erzählen sich die Anhänger von der Partei Rechtsstaatliche Offensive.

Es gab eine Zeit, da waren die Säle voll, und eine schöne Siegessicherheit hatte sich über die Menge gelegt

Denn soweit ist es jetzt schon gekommen: Zwei Jahre nach einem fulminanten Wahlsieg sitzen die Mitglieder der alten Schill-Partei und die Mitglieder der neuen Schill-Partei zerstritten in verschiedenen Ecken von Hamburg und belauern gegenseitig ihre traurigen Wahlkampfauftritte, die aktuellen Tiefs in den Umfragen. Die CDU mit dem amtierenden Bürgermeister Ole von Beust wird am 29. Februar die absolute Mehrheit erringen, schreibt die Bild-Zeitung seit letzter Woche. Die Partei Rechtsstaatliche Offensive und die Pro-DM-Partei werden beide an der Fünfprozenthürde scheitern, lautet die Prognose.

Die Rettung vor dieser Niederlage könnten jetzt nur noch Bezirke wie Wilhelmsburg bringen. In Wilhelmsburg gibt es Hochhaussiedlungen, in denen Türken, Polen, Albaner und unzufriedene Deutsche wohnen. Hier leben nur Zuhälter und Drogendealer, sagen die Taxifahrer. In Wilhelmsburg, erzählen sich die Leute, fahren 16-Jährige dicke Autos, und keiner kümmert sich darum. In Wilhelmsburg wohnen aber auch ganz normale Menschen, die essen, schlafen und in den Fernseher gucken. Bei der letzten Bürgerschaftswahl haben hier 34,9 Prozent Schill gewählt. In dieser Gegend wirbt jetzt selbst die SPD mit Plakaten, auf denen steht: „Mehr Polizei auf Hamburgs Straßen“.

Zwischen den Hochhäusern führt eine alte Frau ihren Hund spazieren. Sie hat eine gelbe Wollmütze auf dem Kopf und eine Entschlossenheit im Gesicht, aber sie weiß noch nicht, was sie wählen wird. „Den Schill nich’“, sagt sie. Sie kenne auch niemanden, der ihn gewählt habe. Vielleicht lügt die Frau. Vielleicht gehen die Schill-Wähler auch nur noch selten vor die Tür. „Habe jedenfalls nich’ gemerkt, dass sich was geändert hat“, sagt die Frau. Sie guckt auf die gegenüberliegende Grünanlage, im Gebüsch hängt eine leere Plastiktüte, dahinter spielen ein paar türkische Jungs in der Dämmerung Fußball. Der Hund zieht die Frau an der Leine weiter.

Trotz der Hoffnungen, die auf Wilhelmsburg liegen, steht Mario Mettbach, Bausenator von Hamburg und Vorsitzender der Partei Rechtsstaatliche Offensive, bei seinem Besuch in der Gaststätte „Kupferkrug“ auch nur vor 20 Leuten. Das ist weniger als erwartet. Das ist zu wenig für einen Wahlsieg. Aber Mario Mettbach ist ein charismatischer Mann in einem schlecht sitzenden Jackett, er lässt sich nichts anmerken. Er prahlt mit den Abschiebezahlen, er ruft selbstbewusste Sätze wie „Jede Stimme an Schill ist eine verlorene Stimme“, er gibt sein Bestes.

Nach einer Stunde ist Mettbach fertig mit seiner Rede. Er steht da und schwitzt, wartet auf donnernden Applaus und hört nur verhaltenes Klopfen. Ein Rentner im Publikum beschwert sich, dass immer mehr Ausländer in seine Straße ziehen. Ein paar andere brummen zustimmend. Mario Mettbach zündet sich eine neue Zigarette an. Eine Frau raunt: „Das wird nichts mehr. Nicht mal ein Prozent werden die kriegen.“ Sie steht auf und geht. Die Plakate der Pro-DM-Partei, die draußen an der Leitplanke der Schnellstraße hängen, mit dem Gesicht von Ronald Schill, sind alle zerrissen.