: Die Erkaltung der Welt
Oder das Ende der Pop-Rebellion: Der junge, smarte und schon jetzt viel umjubelte amerikanische Autor Colson Whitehead und sein wuchtiger Angeber- und Durchblickerroman „John Henry Days“
VON JOCHEN FÖRSTER
Als Jonathan Franzen vor zwei Jahren mit den „Korrekturen“ der literarische Kracher des Jahrzehnts gelang, wusste man, dass demnächst ein neues Ticket massenhaft ausgestellt wird: der große, junge amerikanische Wurf. Der Roman, der ein Fass aufmacht. Der sich die Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte spielerisch entlang schwingt, vor blendenden Einfällen beinahe platzt und doch das Ganze nicht aus den Augen verliert, das Tableau, die Relevanz. Jeffrey Eugenides’ „Middlesex“ fuhr auf diesem Ticket erfolgreich durchs vergangene Jahr, und auf selbiges Ticket setzt nun auch der Hanser Verlag den jungen, hoch dekorierten US-Autor Colson Whitehead in den Betriebsbücherbus.
Die Lorbeeren, mit denen Whitehead samt seinem zweiten Roman „John Henry Days“ aus Übersee anreist, sind beträchtlich. Jonathan Franzen höchstselbst hält den Vergleich mit „Ulysses“ und „Moby Dick“ für geboten, John Updike konstatiert eine „Tour de Force“ und bescheinigt „beachtliche satirische Energie“, die New York Times fühlt sich „glatt aus dem Sessel“ gehoben. Was will man da sagen? Wenn nicht alles täuscht, wird Wunderkind Whitehead der Franzen dieser Saison.
Genau wie sein Roman ist der Autor Colson Whitehead einer, gegen den man schwer was haben kann. Ein hoch kultivierter Afroamerikaner, Harvard-Studium, ehrgeizig, nachdenklich, HipHop-sozialisiert, in Brooklyn lebend, mit Berufserfahrung als Popredakteur beim New Yorker Stadtmagazin Village Voice und mit viel Verständnis für Slacker. Den Spaziergang durch Berlin-Prenzlauer Berg absolviert er wie einer, der hier zu Hause ist. Dabei reist er ungern. War er vor dem Erfolg seines Romans praktisch nie unterwegs, ist er es seitdem aber ständig. Eigentlich sehnt er sich nach Hause. Seine Frau weiß seit wenigen Tagen, dass sie schwanger ist, ihr erstes Kind. Zu Hause, da sei das Leben heimelig: Fernsehen, spazieren gehen, das sind so seine Hobbys, sonst macht er kaum was. Ein Rastafari im Pyjama. „Irgendwann ist man zehn Jahre zusammen, irgendwann zieht man zusammen, irgendwann kifft man weniger und geht kaum noch auf Partys, irgendwann heiratet man und bekommt Kinder“, sagt der 34 Jahre alte Whitehead. Oder anders: „The reasons for not doing things seem less important.“
Man braucht einige Zeit, um derlei Abgeklärtheit mit der Lektüre in Einklang zu bringen. Denn auf den ersten Blick ist „John Henry Days“ ein wilder, bissiger, eine Wucht von Roman. Angefangen beim Thema, in dessen Zentrum ein Mythos steht: die legendäre Geschichte des schwarzen Bohrhauers John Henry, der mit Hand, Hammer und Stahl Eisenbahntunnel durch Berge trieb, sich in den 1870er-Jahren, zu Hochzeiten der industriellen Revolution, mit einer Dampfbohrmaschine duellierte, den Zweikampf gewann und dabei vor Erschöpfung starb.
Der eigentliche Wurf aber liegt im Kontrast. Der Welt des schwarzen Helden der Arbeit, des letzten Aufbäumens der Willenskraft wider die Technik, stellt Whitehead ein Kaff in West Virginia gegenüber. Hier begehen irgendwelche Provinztrottel an einem Wochenende im Juli 1996 die John-Henry-Days-Gedenktage nach Kirmesart, und hier lässt sich eine Horde giftqualliger Journalisten auf Agenturkosten durchfüttern, um später irgendwelche miesen Textchen zu schreiben, die niemand braucht, die aber die Einladung zum nächsten Schnorr-Schreib-Event garantieren. In dieser Welt ist schon ein Held, wer sich dem abgewrackten Spiel um Spesen und Infomüll zu entziehen versucht. Oder aber es ad extremum führt: Die Hauptfigur des Romans, der freie Journalist J. Sutter, ist seit drei Monaten dabei, den Nonstop-Rekord eines Kollegen im täglichen Wahrnehmen von mindestens einer PR-Veranstaltung zu brechen. Er steht bei neun Monaten.
Eine albernere, kläglichere, symbolischere Aufgabe lässt sich kaum denken. „John Henry Days“ bezieht seine stärksten Passagen aus ihr, aus der genüsslichen Vorführung der PR-Termin-Journaille, dieser erbämlichen, vollkommen durchzynisierten Schmarotzerbande, diesen selbstgefälligen Söldnern im Dienste weltweiter Verblödung. „Die Sache, um die es geht: das amerikanische Urrecht auf freie Meinungsäußerung, die Freiheit, ohne Furcht vor Zensur die Leute so zu verführen, zu verwirren und auf andere Weise abzulenken, dass sie unverdrossen dem Pop huldigen. Ihre Ideale: die heilige Unantastbarkeit der Quittung, zwei Dollar pro Wort, Reisekosten.“
Whiteheads Diagnose ist nun benannt: die Erkaltung der Welt in der, wenn wir so wollen, Postmoderne, deren Abschaffung der Heldentat im Widerschein des frühmodernen John-Henry-Mythos umso erbärmlicher erscheint. Die Auflösung der Auflehnung im Pop also. Die Sache, um die es geht: nichts. Nicht einmal eine Wut, ein Frust, ein ungutes Gefühl angesichts der allgemeinen Abkühlung. Deshalb findet J. Sutter nichts dabei, Artikel über einen Luxustürknauf oder den neuen Sharp-Organizer abzuliefern, deshalb vögelt er alle zwei Wochen eine PR-Frau namens Monica, seit Jahren schon, ein trostlos abgekartetes Sekretaustauschgeschäft, deshalb trägt er aussschließlich Werbegeschenke am Leib, deshalb paranoisiert er sich regelmäßig den Einbruch des Horrors in den Horror Vacui herbei.
Und deshalb wohl passiert in diesem Roman, wie schon in Whiteheads 1999 erschienen und in Deutschland völlig untergegangenen Erstling „Die Fahrstuhlführerin“, leidlich wenig. Colson Whitehead ist, keine Frage, ein linker Autor, und wenn man ihm etwas nicht vorwerfen kann, dann die Relevanz des Themas – es geht ja nicht nur um die Erkaltung der Welt, sondern qua John-Henry-Mythos auch um Rassismus, um Ausbeutung, um die Frage, ob die Figur John Henry zu Auflehnung oder Fatalismus aufruft.
Was man Whitehead sehr wohl vorwerfen kann, ist die massive Eitelkeit seiner Perspektive. Im Grunde ist „John Henry Days“ wie „Die Korrekturen“ und „Middlesex“ ein Angeberroman. Der Duktus ist der des Durchschauenden, zugleich Unbeteiligten, des „Ich kann euch auch nicht helfen“-Intellektuellen. Handeln ist keine Option. Folglich endet das Kapitel über J. und die PR-Frau Monica mit einer Kriegsvision – er, Soldat, bringt ihr, Krankenschwester, Nylonstrümpfe und Schokolade. Echte Liebesbeweise in Zeiten des Mangels. Sich Spüren? Ausbrechen? Kompromisslos sein? Fühlen? „In einer anderen Welt vielleicht.“
Der Weg, den Whitehead wählt, um Erstarrung zu zeigen, ist die enzyklopädische Fülle. Unmengen an Figuren treten auf, die Verbreitung des John-Henry-Mythos erzählt Whitehead anhand eingesprenkelter Kapitel – ein jüdischer Komponist nimmt sich der John-Henry-Ballade um die Jahrhundertwende an, ein Bluessänger später in den Zwanzigern, einer singt im „John-Henry“-Musical in den Vierzigern am Broadway, eine gewisse Jennifer Sutter, vermutlich J.s Mutter, spielt in den Fünfzigern einzig und allein den Henry-Song auf dem Klavier. Und dann ist da noch das lange Kapitel über das 69er Stones-Konzert in Altamont aus Sicht eines Augenzeugen. Ein programmatischer Exkurs: Als die Hell’s Angels den schwarzen Hippie killten, derweil Mick Jagger ein paar Meter entfernt „Under my thumb“ sang, war es mit der Alternativkultur endgültig vorbei.
Dazwischen ausgebreitet: die Gegenwart. Die Journalisten-Mischpoke. Die PR-Posse. Die Provinzheinis. Die geheimnisvolle Liste, auf der man stehen muss, um als Schnorrjournalist immer eingeladen zu werden. Sowie drei Schlüsselfiguren: die abergläubische Josie, Betreiberin der „Talcott Motor Lodge“, die die Gäste vor dem Geist in Zimmer zwölf warnt, der ein Opfer für John Henrys einstiges Märtyrium fordert. Die attraktive Pamela Steel, deren verstorbener Vater ein obsessiver John-Henry-Sammler war, die zögert, seinen Nachlass dem John-Henry-Museum zu vermachen, und sich schließlich fast in J. Sutter verliebt. Sowie der verschrobene Philatelist Alphonse Miggs, der daheim einen einsamen Kampf gegen die Tupperware-Manie seiner Gattin ficht. Der selten so glücklich war wie in dem Moment, da er selbst, unbehelligt, seine Kleider auf die Schubladen verteilen kann, in Zimmer zwölf der Talcott Motor Lodge. Der schließlich John Henrys Geist erhört. Der als Einziger zur Tat greift. Und der als Einziger in diesem Buch wirklich berührt.
Man kann es auch umgekehrt sagen: „John Henry Days“ liest sich wie das Werk eines hoffnungslos in sich selbst verliebten, politisch korrekten Strebers. Jede Art Thomas-Bernhard’scher Wut geht ihm ab. Trübe Diagnose, keine Gegenwehr, nirgends. Lieber noch eine Erzählpirouette. Und noch eine, wie T. C. Boyle in seinen creative-writing-haftesten Zeilen. Whitehead schreibt Bücher für Air-Hörer. Er spiegelt die mediengesättigte Westgesellschaft, das aber viel zu sophisticated, um irgendwen damit aufzuscheuchen. Das will er auch gar nicht. Und braucht es nicht: Der Respekt ist ihm auch so sicher.
Das Interessanteste an dieser Art Literatur ist ihre Rezeption. Schon bei Franzen und Eugenides war das so. Deren überschwängliche Aufnahme stand in keinem Verhältnis zu ihrer kompositorischen Strenge – man denke nur an die nicht enden wollenden „Kreuzfahrtschiff & Co.“-Mittelteile in den „Korrekturen“ oder die elendig gekünstelten Berlinepisoden in „Middlesex“.
Dass sich niemand darüber beschwert, hat wohl mit der allgemeinen Erleichterung zu tun, endlich mal wieder richtige Erzähler aufs Schild heben zu können. Die sich Raum nehmen, ideell sprudeln, satirisch veranlagt sind. Und das Ganze zu einer umfassenden Abbildung zeitgenössischer Trostlosigkeit schnüren, die man selbst sehr wohl durchschaut, ohne ihr entrissen werden zu wollen. Romane also, die einen mit der beruhigenden Gewissheit entlassen, dass kein Kraut gewachsen ist. Hier trifft der Pyjamablick des Autors sich mit dem der Literaturkritik. Stewart O’Nan, das beste lebende Gegenbeispiel zu solcherlei virtuos saturiertem Kram, hat auch schon ein Wort dafür: „Smart Guys“ nennt er die Kritikerlieblinge, die so schön aufschreiben können, wie alles den Bach runtergeht.
Warum schreibt heute ein Autor 526 Seiten über die Erkaltung der Welt im Pop, ohne dass darin irgendwas von Bedeutung passiert? Weil er den Kontrast zwischen dem Heroen John Henry und dem Infomülllieferanten J. Sutter interessant gefunden habe, sagt Colson Whitehead. Anders gesagt: Weil er früh ins Bett will. Und weil er mitmachen, weil er erfolgreich sein will im Betriebsbücherbus und weiß, welche Regeln dafür gerade gelten. Es sind die Regeln der „Smart Guys“. Wunderkind Whitehead wird der Franzen der Saison.
Colson Whitehead: „John Henry Days“, Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München/Wien 2004, 526 S., 24,90 €