: Das große Topical
Die Migration, die Stadt, der Film: Die dritte Berlin Biennale hat sich Themen verschrieben, nicht ästhetischen Entwürfen und hat nicht zuletzt damit gute Chancen, zum Vorzeigeprojekt der Berliner Republik hinsichtlich zeitgenössischer Kunst zu werden
VON BRIGITTE WERNEBURG
Tiefer hängen, die Kunst nicht weiter mit Heilserwartungen aller Art belasten, wie es der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich vorschlägt? Oder tiefer gehen, das Knie beugen vor der Kunst, weil sie neben der Religion der große Zufluchtsort ist, wie aktuell dieZeit weiß? Der Fotograf Ryuji Miyamoto, der durch seine Bilder von der erdbebenzerstörten Stadt Kobe weltweit bekannt wurde, begann in den Achtzigerjahren die Behausungen von Obdachlosen in Tokio zu fotografieren. Diese Fotoserie der „Cardboard Houses“ (1983–1996), der mit großer Sorgfalt erbauten Unterkünfte aus Pappkarton, hängt nun im Berliner Martin-Gropius-Bau ganz tief unten an der Wand. Und wirklich sieht man hin und wieder Besucher in die Knie gehen, um die Bilder genau studieren zu können. Doch mit dieser Hängung ist weder eine Rücknahme der Erwartungen an die Kunst beabsichtigt noch der Kniefall vor dem Meisterwerk.
Die Hängung will anderes. Sie ist symptomatisch für die Haltung, die die ganze Berlin Biennale prägt, die nun zum dritten Mal seit 1998 stattfindet. Erstmals war sie von Klaus Biesenbach initiiert worden, der mit anderen Kunstbegeisterten Anfang der Neunzigerjahre eine ehemalige Margarinefabrik in der Auguststraße zum Ausstellungsbetrieb umfunktionierte, der schließlich unter dem Namen Kunst-Werke zur festen Größe der Berliner Kultur wurde. Privat organisiert war ihr Zustandekommen stets eine prekäre Angelegenheit. Doch stets war die Biennale auch eines der wenigen, in Berlin selbst entwickelten Ausstellungsprojekte und nicht das von anderswo eingekaufte Fertigprodukt. Vielleicht nur konsequent, dass die Bundeskulturstiftung dies mit einer ständigen Förderung von der nächsten Ausgabe an belohnt?
Dem Aufstieg der Biennale zum Vorzeigeprojekt der Berliner Republik in Belangen der zeitgenössischen Kunst jedenfalls steht nichts mehr im Wege. Schon jetzt nutzt die Biennale neben Biesenbachs Margarinefabrik erstmals den repräsentativen Martin-Gropius-Bau. Das Abenteuer, das die Berlin Biennale war und das ihr von vornherein den Charme des Experimentallabors gab, ist Vergangenheit. Bereits heute scheint nichts mehr riskant, nicht einmal die tiefe Hängung von Ryuji Miyamotos Fotos. Sie ist nur tautologisch, hoch symbolisch, pädagogisch. Denn notwendigerweise agiert der Betrachter, der um der Bilder willen in die Knie geht, auf der gleichen Ebene wie die Obdachlosen. Wie sie kriecht er auf die Hütten zu, die er trotzdem nie betreten kann. Ihm wird eine Lektion erteilt: Nicht ästhetisch genießen womöglich, sondern existenziell erleiden muss er, was er sieht. Doch das Spektakel, das ihm die Obdachlosigkeit nicht sein darf, dieses Spektakel wird er nun selbst. Äußerst peinlich und faszinierend zugleich ist es, zuzuschauen, wie die Besucher zögern, ob sie das Knie beugen oder den Raum und seine Bilder nur flüchtig streifen wollen. Leider entscheiden sie sich meist für Letzteres. Dabei eröffneten ihnen die Fotografien selbst doch genau das, was die Kuratorin der Ausstellung, die Wiener Kunstprofessorin Ute Meta Bauer, wörtlich einen „Ermöglichungsraum für gesellschaftspolitische Auseinandersetzung“ nennt. Das ist ihre Heilserwartung an die Kunst, die sie nicht hoch genug hängen kann. So hoch, dass sie so tief, in Bußfertigkeit, endet.
Doch dieser Aufstieg und Fall bleiben folgenlos. Die dritte Berlin Biennale ist ein großes Topical. Sie hat sich Themen verschrieben, nicht ästhetischen Entwürfen. Themen oder Topics freilich, die im Kunstbetrieb inzwischen gut verankert und ganz und gar unumstritten sind. (Im Gegensatz beispielsweise zu der Frage nach einer neuen Malerei.) Migration, die Stadt, ihre sozialen und ästhetischen Brennpunkte, ihre Szenen, in Kunst, Musik oder Mode und schließlich der Film unter dem Stichwort „Anderes Kino“ werden als Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung genannt; zusammengefasst in so genannten Hubs, Knotenpunkten, in denen die in der Schau ausgelegten Themenfäden zusammenlaufen.
Wie alt diese Auseinandersetzung schon ist, belegt die Biennale selbst, in ihren retrospektiven Einschüben, die mit die interessantesten Arbeiten der Ausstellung präsentieren. So zeigt etwa der britische Künstler Stephen Willats nicht nur seine neuen, speziell für die Biennale erstellten Arbeiten aus Neukölln, vom Schlachtensee oder dem Strausberger Platz, sondern auch seine Recherchen von 1979/80 im Märkischen Viertel und in der Gropiusstadt. Damals schon wie heute befragte der Künstler die Bewohner nach ihren Lebensentwürfen und ihren Lebensbedingungen und arbeitete diese Auskünfte in seine Fotodokumentation ein. Auch die Filmrecherchen von Rolf S. Wolkenstein und Christoph Dreher über die wilden Performances von Künstlergruppen wie Malaria oder Die Tödliche Doris vom Anfang der Achtzigerjahre beleuchten das Crossover von Kunst, Musik und Mode in Berlin, das damals notwendigerweise radikaler war als heutige Projekte.
Die retrospektiven Verweise sind insgesamt dem Top-Topic Berlin gewidmet. In Form eines Einblicks in die weibliche Berliner Elektronicszene geben sie auch dem Hub „Sonische Landschaften“ seine Relevanz – denn ein braves Video über eine brave schwedische Mädchenband names Chillimango, deren Protagonistinnen Selbstauskünfte wie „Wir passen einfach gut zusammen“ geben, kann es ja wohl nicht sein. Nach der zweiten Berlin Biennale, deren Reichweite die Kuratorin Saskia Bos international ausdehnte, will Ute Meta Bauer den Fokus nun erneut, wie im Fall der ersten, von Klaus Biesenbach, Nancy Spector und Hans-Ulrich Obrist kuratierten Schau, auf Berlin legen. Dahin gestellt, ob Ute Meta Bauers Prämisse stimmt, das Versprechen Berlin sei nicht eingelöst worden: Ihr eigenes Berlin-Versprechen rückt die Stadt jedenfalls in modellhafte Ferne. Es verbirgt sie eher in statistischen Untersuchungen, anstatt die Metropole in ihnen auszustellen. Ganz gleich ob Jesko Fezer und Axel John Wieder im Hub „Urbane Konditionen“ versuchen, die Erhebungen in – glücklicherweise einigermaßen absurden – Modellbauten zu visualisieren.
Es schadet ja nicht, dass der Hype um Berlin und die anderen Themen der 3. Biennale längst vorbei ist, das tangiert ihre Bedeutung nicht. Doch so museal perfekt, so entrückt, so elegant und gediegen, so wohlsortiert und gut kategorisiert, hätte man sich ihre Präsentation nicht vorgestellt. Es wurde aufgeräumt und vorgesorgt. Der Besucher ist das Mündel, das mit sanfter, aber entschiedener Hand geführt werden muss. Dem Mündel bleibt da kein Raum für die urteilende Bewegung der ästhetischen Erfahrung. Vielleicht ist daher Miyamotos Fotoarbeit einer der wenigen Orte, wo endlich Spannung aufkommt. Wenn auch aus außerästhetischen Gründen. Bei so viel Erziehungsmaßnahme wird selbst der Folgsamste rebellisch. Sonst entzieht man sich eben den Vorgaben ohne größeren inneren Konflikt, indem man sich etwa die Lesearbeit zu dem Wort „Maßnahme“ erspart, die zu den 34 Fotografien gehört, die Bannu Cennetoglu unter dem Titel „False Witness“ präsentiert: Es wird schon seine Richtigkeit damit haben, so unantastbar zutreffend wie die Arbeit präsentiert ist.
Unter der Unlust zur Auseinandersetzung leiden auch die besseren Arbeiten. Allein bei den Filminstallationen darf man ungeschützt Lakonik auf der einen und Opulenz auf der anderen Seite erfahren. Mark Lewis zeigt Kondensate des Kinos, wie eine lange Kamerafahrt aus einer weiten Totalen in die Großaufnahme. Die Totale fokussiert in großer Ferne eine industrielle Lagerhalle, die Großaufnahme endet auf einem Kreisel, der von zwei Jungs auf einem Tisch in dieser Lagerhalle zum Tanzen gebracht wird. In „Baltimore“ lässt Isaac Julien den Vater der Blaxploitation, des schwarzen Actionfilms, Melvin Van Peebles in drei Museen der Stadt gehen, begleitet, vielleicht verfolgt von einer Schönheit im riesigem Afrohaar der Siebzigerjahre. Aus der betongrauen Stadt schießt er den Betrachter geradezu in das bunte Delirium kostbaren Museummarmors, und herrliche Renaissance-Gemälde scheinen von nicht minder faszinierenden Figuren des Museums „Great Blacks in Wax“ bevölkert zu sein.
Es ist nicht so, dass der Biennale die interessanten Exponate fehlten. Es findet sich eine ganze Fülle davon. Mustergültig bringt etwa „Actualité“, ein kurzer Loop von Mathias Poledna, die kalkuliert ungeschickten Instrumentalgesten des Postpunk in ihrer kalkuliert ungeschickten Rekonstruktion durch eine anonyme Band auf den Punkt, wobei die Kamera immer auf gleicher Höhe bleibt und die Band, analog zu den Musikfragmenten, nur in Bildfragmenten sichtbar wird. Die filmischen Tonquellen und der Versuch ihrer räumlichen Lokalisierung führen in Judith Barrys Videoinstallation „Voice Off“ bis in die paranoide Katastrophe. Auf der einen Seite der Leinwand – während man auf ihrer anderen Seite ihrem Sirenenklang verfällt. Passendes Gegenstück vielleicht, Ergänzung oder auch Kontrapunkt ist Nomeda und Gediminas Urbonas Soundinstallation „Ruta Remake“. Auf 13 verschiedenen Ebenen archiviert sie Frauenstimmen aus Litauen, die der Betrachter durch den Schattenwurf seiner Hände wie eine Komposition dirigieren kann. Auf unaufwändige Weise triftig ist dann die minimalistische Studie über städtisches Licht von Willie Doherty sowie David Lamelas Helikopterflug über die Großbaustelle Berlin oder Melik Ohanians Kamerafahrt durch die öden und verlassenen Straßen der Liverpooler Docklands. Dort, wo kein Geringerer als Richard Burton einstmals mit den Arbeitern soff.
Es ist also nur so, dass die Biennale ihre Exponate so steril wie möglich präsentiert. Dass sie die Anleitung vor das Vergnügen setzt, wo doch das Vergnügen ganz von selbst die Neugier auf die Anleitung und das kritische Verständnis produziert – wenn es sich denn um substanzielle Arbeiten handelt. Dieses Vertrauen aber verweigert die Ausstellung ihren Ausstellungsstücken.
Bis 18. April, an den Orten Kunst-Werke, Martin-Gropius-Bau und Kino Arsenal (dort läuft ab 18. Februar die Filmreihe das Andere Kino). Kurzführer 12 €, Katalogbuch „Komplex Berlin“, 30 €