Mensch ohne Klasse

Hängt das subjektive Ungerechtigkeits- empfinden von der Klassenzugehörigkeit ab? Der französische Soziologe François Dubet zeigt: Die konkrete Lebenswelt ist entscheidend

Die prekär beschäftigten Lehrbeauftragten an den Universitäten sind nicht zu beneiden, denn sie warten auf eine Festanstellung, und „an der Uni Kurse zu geben, unbezahlt, ist immer noch besser, als gar keine zu geben“, wie eine Studierte klagt. Die prekären jungen Akademiker fühlen sich ausgebeutet und ausgeliefert. Obwohl sie einem bürgerlichen Milieu entstammen.

Mit Klassenunterschieden hat das Erleben von Ungerechtigkeiten nur noch wenig zu tun, sagt der französische Soziologe François Dubet. Er hat mehr als 1.000 Erwerbstätige in Frankreich zu ihrem „subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz“ befragen lassen. Sein Fazit: Die persönlichen Lebenslagen entscheiden über die Auffassungen von Gerechtigkeit, nicht aber die „in die Sozialstruktur eingeschriebenen Ungleichheiten“. Deswegen kann sich nach Dubet auch keine allgemeingültige Moral entwickeln darüber, was gerecht ist und was nicht. Stattdessen sehen Menschen je nach ihrer Lebenslage eher die Prinzipien von Leistung und Autonomie verletzt oder beklagen sich über Günstlingswirtschaft und ungerechtfertigte Privilegien.

Die Befragungen ergaben beispielsweise, dass geringer qualifizierte Arbeitnehmer ohne Führungsverantwortung eine Entlohnung eher als gerecht empfinden, wenn es keine allzu großen Entgeltunterschiede gibt und sich die Bezahlung eher am Dienstalter und weniger an der Leistung orientiert. Das heißt nicht, dass diese Milieus leistungsfern sind, sondern dass sich die Befragten durch den Verschleiß in ihrem Job und die fehlende Autonomie in ihrer Arbeitsgestaltung „weniger als ‚Subjekte‘ ihrer beruflichen Karriere fühlen“, so Dubet. Und deshalb haben sie ein Gerechtigkeitsempfinden entwickelt, in dem eben nicht vor allem eine individuelle Leistung über die Bezahlung entscheiden soll.

Sozialleistungen zu bekommen, ohne eine Gegenleistung zu geben, wird von diesen Arbeitermilieus jedoch abgelehnt. Sie grenzen sich gegen „faule Erwerbslose“ besonders heftig ab und verlangen eine Gegenleistung für gewährte Transfergelder, die ja schließlich von den Arbeitenden bezahlt werden. Auch das wiederum ist kein Zeichen unsozialen Denkens. Vielmehr ängstigt sie gerade die gesellschaftliche Nähe zu den Langzeiterwerbslosen, die Stigmatisierung der Stützeempfänger ist in dieser Logik eine „Distinktionsstrategie“, schreibt Dubet.

Gebildete, gutverdienende Akademiker haben es da leichter. Sie verfügen in ihrem Beruf meist über größere Macht, vertrauen daher stärker auf ihre Leistung und „pflegen eine hinreichend große symbolische Distanz“ zu den Sozialleistungsempfängern, um sich „hinsichtlich der Umverteilung großmütig zu zeigen“, meint Dubet. Dies sollte manch linken Akademikern, die sich moralisch überlegen fühlen, zu denken geben.

Je höher die Befragten auf der sozialen Stufenleiter stehen, desto mehr akzeptieren sie Ungleichheiten. So hielten 41 Prozent der Fach- und Führungskräfte die Einkommensdifferenz zwischen einem leitenden Geschäftsmann und einer Kassiererin für gerecht, aber nur 16 Prozent der ArbeiterInnen. Arbeiter fühlen sich besonders häufig von Vorgesetzten missachtet, weniger hingegen von Kollegen. Bei Angestellten ist es umgekehrt. Landwirte hingegen, die ja meist selbständig sind, leiden nicht unter einer Herablassung von Kollegen oder Vorgesetzten. Sie aber fühlen sich in den Medien und in der Gesellschaft häufig unterbewertet. Fehlende Anerkennung oder gar Mobbing frustrieren in jeder Lebenslage.

Akademiker und Führungskräfte empfinden sich dabei besonders häufig als schlecht bezahlt im Verhältnis zu ihrem Einsatz, während Arbeiter über geringe Entlohnung im Verhältnis zu den Arbeitsbedingungen klagen. In der französischen Studie zeigt sich die Frustration vieler Akademiker. „Das Examen erzeugt Einkommens- und Statusansprüche, die strukturell über den wirklichen Chancen liegen“, schildert Dubet. Die enttäuschten Aufstiegserwartungen mancher Diplomierten sorgen für heftige Ungerechtigkeitsgefühle.

Die Ungerechtigkeitsgefühle „multiplizieren“ und „individualisieren“ sich, so der Soziologe. Diese Gefühle lassen sich aber nicht in die „politisch repräsentierten gesellschaftlichen Spaltungen“ einordnen, meint Dubet. Deswegen setzten auch nur 18 Prozent der Befragten beim Kampf gegen Ungerechtigkeiten auf die Gewerkschaften. Auch Bewegungen wie etwa die Globalisierungskritik seien heute zum Großteil „denkbar weit entfernt von der individuellen Ungerechtigkeitserfahrung“, die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung erleben.

Eine „gute Gesellschaft“ ist für Dubet jene, die den Individuen die Möglichkeit gibt, sich „gegen die destruktiven Wirkungen der Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen“. Diese Gesellschaft müsste verhindern, „dass sich die Spaltungen überlagern, dass sich Enklaven bilden, dass sich Ungerechtigkeiten häufen“. Wenn auch die Architektur der Ungerechtigkeiten komplizierter geworden ist – die politische Aufgabe, dagegen anzukämpfen, bleibt.BARBARA DRIBBUSCH

François Dubet: „Ungerechtigkeiten. Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz“. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Hamburger Edition, Hamburg 2008, 517 Seiten, 38 Euro