: Hummer und Knödel
Im kanadischen New Brunswick an der Atlantikküste pflegen die Akadier ihre Kultur. Im historischen Akadier-Dorf mit seinen 30 Originalgebäuden erwacht die Vergangenheit anrührend und skurril
Übernachten: Hotel Paulin, Caraquet, www.hotelpaulin.com Auberge Maison Vienneau, Shediac, www.maisonvienneau.com Akadier aller Länder: Vom 7. bis 23. August 2009 findet in New Brunswick der 4. Weltkongress der Akadier statt, ein Festival mit Musik, Theater, Sportveranstaltungen und Ausstellungen. Programm unter www.cma2009.ca
„Bärenflüsterer“ Richard Goguen, Tel.: (001-506) 775 23 54, www.bearsafari.com Hummertouren, RobertLeBlanc, Tel.: (001-506) 532 21 75, www.lobstertales.ca
„Le Pays de la Sagouine“, www.sagouine.com Aquarium Shipagan, Tel.: (001- 506) 336 30 13, www.gnb.ca/aquarium Village Historique Acadien, Tel.: (001-506) 726 26 00, www.villagehistoriqueacadien.com
Tourismus New Brunswick, www.tourismnewbrunswick.ca Tourismus Akadien, www.acadievacances.com
VON FRANZ LERCHENMÜLLER
Endlich Mittag! Erleichtert legt Witwer Marten das Messer beiseite, mit dem er lange Streifen von einem Birkenstämmchen geschnitten hat, um einen Besen „indianischer Art“ daraus zu binden. Dann schlurft in seinen schweren Holzschuhen hinüber zum gemauerten Ofen. Freundlich blinzelt der alte Mann durch seine randlose Brille den Besuchern zu. „Für den Wald habe ich mir bei meinen indianischen Nachbarn ein paar Mokassins eingetauscht. Wir Akadier kommen mit den Mik’maq ja bestens zurecht.“ Die Pfanne mit Lachs und Kartoffeln duftet, draußen knirscht ein Pferdefuhrwerk vorbei und dann kommt auch noch der Schmied auf einen kurzen Schwatz herüber.
Ganz so gemütlich wie im „Village Historique Acadien“ bei Caraquet in New Brunswick ging es Ende des 18. Jh. nicht immer zu in L’Acadie. Es sind bewegte Zeiten in jenem Gebiet an der kanadischen Atlantikküste, das heute zu den Provinzen New Brunswick, Nova Scotia und Prince Edward Island gehört. Ist ja noch nicht lange her, dass die Briten sie, die französischen Siedler, 1755 bis 1762 in Schiffe gepfercht und verschickt haben nach Massachusetts und in die Sümpfe von Louisiana, weil sie keinen Treueeid auf die britische Krone leisten wollten. Erst seit kurzem hat man ihnen erlaubt, zurückzukehren. Die schönen Farmen freilich, die sie ein Jahrhundert lang aufgebaut haben, sind jetzt in britischer Hand, ebenso das Land, das sie mit Deichen dem Meer abgerungen haben. Ein harter Verlust – hatte doch der Küstenstrich ihre Vorfahren an das gelobte Land, das mystische Arkadien Griechenlands, erinnert, als sie Mitte des 17. Jahrhunderts aus der Bretagne und der Normandie herübergekommen waren. Neu anfangen heißt es jetzt. In kleinen Dörfern, wo niemand sich an ihrer französischen Sprache und ihrem katholischen Glauben stört.
Heute betrachten sich eineinhalb Millionen Menschen weltweit als Nachkommen der Akadier. 300 000 davon leben an der Ostküste von New Brunswick. Auf der sogenannten Akadischen Halbinsel im Nordwesten erstrecken sich lange Strände, Blaubeerbüsche setzen im Herbst die Moore in Farbenfeuer. Hunderte von Robben aalen sich auf den Sandbänken vor den Naturschutzgebieten. In den Wäldern tummeln sich Schwarzbären. In Dörfern wie Caraquet und Grand Anse säumen weiße Holzhäuser mit penibelst geschnittenem Rasen kilometerlang die Straßen – sehr gesittet und ein wenig provinziell. Die Vergangenheit aber, von 1770 bis 1920, erwacht im historischen Akadierdorf mit seinen 30 Originalgebäuden zum Leben. Beim Schindelmacher fliegen die Späne, der Bettler pöbelt auf der Straße, und im Restaurant „La table des ancêtres“ serviert man „poutine rapées avec cochon“, Kartoffelknödel, gefüllt mit gepökeltem Schweinefleisch – nur echt mit Zucker darüber.
Solches Arme-Leute-Essen findet sich in den Restaurants an der Küste heute nur noch selten. Dort stehen auch frische Austern auf der Karte – und Hummer. Alain Champoux macht die Krustentiere zum Mittelpunkt einer kompletten Show. Während der zweistündigen Bootsfahrt in die Bucht von Shediac holt er Hummerfallen aus dem Wasser, in denen sich „zufällig“ ein Weibchen und ein Männchen gefangen haben. Er erklärt, wie man mit einer Zange Gummiringe über die fingerknackenden Scheren schiebt, beschreibt, wie die Tiere sich mit bis zu 30 km/h im Wasser fortbewegen, und erzählt vom blauen Hummer im Aquarium von Shippagan, einer Laune der Natur, die einmal unter 25 Millionen vorkommt. Am Ende geht es in die Praxis: Die Besucher lernen, die Krustentiere fachgerecht zu knacken. Erst wenn der Saft spritzt, die Schalen krachen und der ganze Mensch sich einsaut, ist der Genuss vollkommen. Hummer vom Silbertablett? Was für ein Stilbruch, lacht der blonde Strahlemann.
1960 wurde mit Louis J. Robichaud ein Akadier zum Präsident von New Brunswick gewählt. Er führte Französisch offiziell als zweite Landessprache ein und eröffnete den Akadiern gleiche Bildungs- und Karrierechancen. Seitdem ist ihr Selbstbewusstsein enorm gewachsen. Über Tankstellen, Stadien und Fischerbooten weht die blau-weiß-rote Flagge, selbst Gartenzäune, Telegrafenstangen und ganze Leuchttürme streicht man in den akadischen Farben und setzt den gelben Stern dazu, der für die Schutzpatronin Maria steht. Ihre leidvolle Geschichte als Abkömmlinge der ersten französischen Siedler an der Atlantikküste, die Sprache und der katholische Glaube verbinden die Akadier eng und unterscheiden sie in ihrem Selbstverständnis von den anderen Frankokanadiern, etwa in Québec.
Der Höhepunkt im kulturellen Leben der Volksgruppe war das Jahr 1979, als mit Antonine Maillet erstmalig eine akadische Autorin den französischen Prix Goncourt gewann. „La Pays de la Sagouine“, ein 1992 nachgebautes akadisches Dorf in einem See bei Bouctouche, erweckt das Personal ihrer Romane zum Leben. In den Häusern regieren bigotte Witwen, fröhliche Säufer stehen an den Ecken und die Töchter des Friseurs rennen streitend durch die Straßen – es ist das anrührende wie skurrile Ensemble einer nicht ganz untergegangenen dörflichen Welt: Akadien lebt.