DER KAMPF GEGEN DAS SARS-VIRUS IST EINE AUFGABE ALLER STAATEN
: Die Globalisierung der Interessen

Wochenlang hat die Pekinger Regierung die Verbreitung einer neuen, in etwa 4 Prozent der Fälle tödlichen Viruserkrankung in China verschwiegen. Inwieweit Peking damit zur weltweiten Verbreitung des SARS-Virus (Schweres Akutes Respiratives Syndrom) ursächlich beigetragen hat, wird sich wohl nie endgültig klären. Bis heute ist nicht vollständig gewiss, wie sich das Virus von Mensch zu Mensch übertragen lässt. Unabhängig davon aber steht China heute völlig zu Recht im Feuer internationaler Kritik. Pekings Schweigen gefährdete Menschenleben, daheim und im Ausland. Inzwischen sind weltweit 3.000 SARS-Fälle bekannt, von denen 130 tödlich verliefen. Und noch gibt es keine klaren Anzeichen, weder von der medizinischen noch von der epidemologischen Front, ob die Gefahr rasch gebannt werden kann. Hat die Welt Pech, dann erweist sich das neue Virus im menschlichen Körper als mutations- und anpassungsfähig oder es verbreitet sich wie das Aids-Virus auch über Menschen, die keine Symptome einer Krankheit zeigen. In beiden Fällen müssten Menschen überall auf der Welt lernen, mit SARS zu leben.

Trotz aller nötigen Kritik an der bisherigen Pekinger Informationspolitik ist es deshalb höchste Zeit, die Schuldzuweisungen an China einzustellen. Harmlos klingende Definitionen wie „asiatische Lungenentzündung“ (The Economist) grenzen das Problem falsch ein. Wer würde Aids heute als „afrikanische Bluterkrankung“ bezeichnen wollen? Die für die ganze Menschheit ernst zu nehmende Gefahr neuer Viren lässt sich nicht geografisch eingrenzen. Neue Krankheitserreger können durch die Bedingungen moderner Tierhaltung in Europa (Beispiel BSE) ebenso den Menschen erreichen wie – so eine Hypothese im SARS-Fall – durch das enge Zusammenleben zwischen Mensch, Huhn und Schwein in Südchina. In jedem Fall aber ist ihre Bekämpfung eine Aufgabe aller Staaten.

In Sachen SARS bewähren sich hier die Mechanismen der Globalisierung auf erstaunliche Art und Weise. Schon hat allein die Sorge vor SARS in den westlichen Industrieländern die chinesische Regierung zum Offenbarungseid gezwungen. Was würden sich die Pekinger Machthaber sonst um ein paar hundert Tote in einer ihrer südlichsten Provinzen kümmern? So viele Opfer lassen sich jeden Monat allein in den Kohleminen der Volksrepublik zählen. Doch plötzlich ist SARS die „höchste Priorität“ der chinesischen Kommunisten. Sie haben nicht etwa über Nacht die Liebe zum eigenen Volk entdeckt – wohl aber lernen müssen, dass bei Missachtung des einzelnen SARS-Falles kein Ausländer mehr in China leben, geschweige denn in das Land reisen will. Ohne Ausländer aber läuft in der chinesischen Wirtschaft schon lange nichts mehr. Peking muss also alles tun, um ihr Vertrauen zu bewahren. Gleichzeitig kann es bei Maßnahmen zur Vermeidung einer Epidemie keine Zwei-Kassen-Medizin geben: Jeder SARS-Ausbruch in jedem armen chinesischen Bauerndorf kann die ganze Gesellschaft auf Dauer gefährden – genauso wie die Infizierung einer Luxus-Hoteletage in Hongkong. Folgerichtig hat Peking jetzt einen nationalen SARS-Bekämpfungsplan auflegen müssen, obwohl zuvor ständig von der regionalen Eindämmung der Krankheit in Südchina die Rede war. Insofern kommt die SARS-Angst der westlichen Wohlstandsbürger heute allen Chinesen zugute.

Hier schlägt das Pendel der Globalisierung zurück. Wo westliche Unternehmen und Konsumenten bisher nur ihr Interesse sahen, möglichst viel billige China-Ware auf ihren Ladentisch zu bekommen, entdecken sie plötzlich ihr Interesse an guten medizinischen Bedingungen und einer aufgeklärten Öffentlichkeit in der Volksrepublik, ohne die sich die Verbreitung von SARS nicht stoppen lässt. Peking kann diese Interessen nicht länger ignorieren. Anders lässt sich die inzwischen erreichte Transparenz innerhalb Chinas nicht erklären.

So werden in der Antwort auf die weltweite Verbreitung des SARS-Virus Ansätze für effektive Kommunikationssysteme einer Weltgesellschaft deutlich. Der von der Weltgesundheitsorganisation moderierte Großeinsatz von über einem Dutzend medizinischen Speziallabors zur Erforschung des SARS-Virus geht in diese Richtung – und macht deutlich, wie produktiv die Herausforderungen sind, vor die China den Westen heute stellt. Statt um die Zerwürfnisse von gestern wie etwa im Nahen Osten geht es hier um die Gefahren von morgen. GEORG BLUME