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Archiv-Artikel

Annistons antitoxisches Gemisch

Lindell recherchiert, Kinney redet: „Hier kümmert sich niemand um die Umwelt, solange der Dollar rollt“

aus Anniston MICHAEL STRECK

Als Brenda Lindell nach Washington DC fuhr, war sie verzweifelt. Eigentlich hatte sie ihre Heimat nach jahrelangem Kampf bereits aufgegeben. Nur noch aus Pflichtbewusstsein hatte sie sich auf den Weg zu der Anhörung im Kongress gemacht. „Mein Gott, war ich aufgeregt. Was habe ich gebetet, dass ich das schaffe.“ Die 52-Jährige weint, als sie von diesem Tag im Sommer 1997 erzählt. Als sie vor den Abgeordneten stand, habe sie eine so starke Kraft gespürt. Als spräche Gott direkt zu ihr. „Da wusste ich, dass ich weitermachen muss.“

Zwei Dinge überraschen Brenda Lindell in ihrem Leben immer wieder: Wie unergründlich die Wege des Herrn sind und dass sie immer noch in Anniston, Alabama, wohnt. Auf dem Kühlschrank, im Bücherregal, selbst auf dem Klo in ihrem Haus begegnet einem Jesus. Nur der Garten, der um diese Jahreszeit rosa, weiß und gelb blüht, scheint eine jesusfreie Zone. Hier, am wohlhabenden, ordentlichen und auf einem Hügel gelegenen Stadtrand von Anniston, lässt sich fast vergessen, in welchem Ort man sich befindet. Doch in nur fünf Minuten ist man mit dem Wagen in „Downtown“, wie es auf dem Straßenschild heißt. Ein hilfloser Versuch, der sich planlos in alle Richtungen erstreckenden Ansammlung aus Holzhäusern, Tankstellen und Fastfoodläden eine Mitte zu geben.

Anniston ist gesichts-, aber nicht namenlos. Das Online-Magazin Forbes.com wählte die 70.000-Einwohner-Stadt im vergangenen Jahr zur „schlimmsten Stadt“ der USA. Brenda Lindell kramt die Titelgeschichte einer Zeitung aus Florida über ihre Heimatstadt hervor. Selbst im Urlaub blieb sie nicht vor der „Gifthauptstadt“ Amerikas verschont, wie sie Anniston nennt.

Fünfzig Jahre lang produzierte der Chemieriese Monsanto vor den Stadttoren Chloride. Das Werk wurde 1971 geschlossen. Seither verrottet es, die US-Umweltbehörde erklärte das Betriebsgelände für verseucht. Tausende Bewohner, die über Gesundheitsbeschwerden klagen und bei denen im Blut hohe Konzentrationen toxischer Stoffe nachgewiesen wurden, sind gegen die Firma vor Gericht gezogen.

Wo die rostigen Rohrleitungen der stillgelegten Chemiefabrik enden, beginnt ein weitläufiges Militär-Areal, das nach eigenen Angaben die größte Panzerwerkstatt der Welt beherbergt. Außerdem lagern hier 7 Prozent der Bestände an chemischen Waffen der USA. Genau 2.250 Tonnen Nervengas der Sorten Sarin, VX und Senfgas. Kein schlechter Grund, um aus einer Stadt wegzuziehen. Aber Brenda Lindell kämpft. Sagt, dass die Waffen hier niemals hätten gelagert werden dürfen. Dass Anniston zwar keine große Stadt sei, aber immerhin der am dichtesten besiedelte Ort in der Nähe eines Chemiewaffenlagers. Bei einem Unfall wären zehntausende Menschen betroffen.

Vor dem 11. September habe es Überlegungen gegeben, die Raketen in ein abgelegenes Lager nach Utah zu transportieren, doch aus Angst vor Terroranschlägen sei die Idee verworfen worden. Da die Regierung in Washington sich ohnehin in der Chemiewaffen-Konvention verpflichtet hatte, die Nervengase zu vernichten, setzten die Militärs darauf, das Problem vor Ort zu lösen: Das Pentagon ließ eine Verbrennungsanlage bauen. Doch die Generäle hatten ihre Pläne ohne Brenda Lindell und ihre protestantisch disziplinierte Haltung gemacht, das Himmelreich wenigstens ein Stück weit auf Erden zu errichten. Sie sagt: „Wir sind bereits so verseucht, wir brauchen nicht noch mehr Gift.“

Rückblickend wundert sich sich darüber, dass sie zehn Jahre in Anniston „wie unter einer Glocke gelebt hat“. Die Pfarrersfrau hat den Haushalt geführt und sich um die Erziehung der drei Kinder gekümmert. Erst 1991 wurde sie hellhörig, als durchsickerte, dass das Verteidigungsministerium ihre Stadt zum Standort für die Vernichtung von Chemiewaffen ausgewählt hatte. Sie fragte in der Stadt nach, aber niemand konnte ihr mehr sagen. Das Schweigen erklärt sie sich dadurch, dass die Armee die wichtigste Arbeitgeberin für viele in der Stadt ist. Die Ignoranz spornte sie an, sie begann zu recherchieren und sich mit anderen Umweltgruppen landesweit zu vernetzen. „Ich hatte auf einmal den Impuls, etwas tun zu müssen.“ Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Berge von Papier. Heute ist sie bestens informiert, kann Emissionsdaten und chemische Verbindungen mit unaussprechlichen Namen wie „Heptachloridbenzolfuran“ auswendig.

Lindell gründete die Bürgerinitiative „Familien gegen die Verbrennung von Nervengas“, der ein fester Kern von rund zwölf Leuten angehört. Auf einmal wurde sie zur Zielscheibe der Lokalpresse und als Grüne beschimpft, die den Ruf der Stadt ramponiere. „Was gab es hier schon noch zu ramponieren?“, sagt sie und lacht. Aufgeschreckt durch den aufkeimenden Widerstand schickte das Pentagon Öffentlichkeitsarbeiter in die Stadt, organisierte Treffen mit Einwohnern, um sie vom problemlosen Verbrennungsverfahren zu überzeugen. Wären die Bestände erst einmal verbrannt, bestünde keine Gefahr mehr für die Stadt, lautete die Logik ihrer Botschaft. „Die glaubten doch tatsächlich, dass wir ihnen das abkaufen und nicht nachfragen, was durch den Verbrennungsprozess an Giften freigesetzt wird.“

Bei einem dieser Treffen im Rathaus lief ihr Rufus Kinney über den Weg. Der wuchtige Mann mit dem grauen Bart, Literaturprofessor an der nahe gelegenen Jacksonville State University, war gerade Vater geworden und besorgt über die Risiken der Waffenvernichtung. „Ich war schockiert, wie leichtfertig mit unserer Gesundheit gespielt wurde. Über Nacht wurde ich zum Umweltschützer.“ Und zum wichtigsten Mitstreiter von Brenda Lindell.

Die beiden sind ein bizarres Duo. Sie, die zur Umweltaktivistin gewandelte Hausfrau, tief religiös, asketisch, Verehrerin von George W. Bush und Hardcore-Republikanerin, die fordert, dass die USA aus der UNO austreten, die warnt, ihr Land dürfe nicht Franzosen und Russen über seine Interessen entscheiden lassen. Er, der Lebemann, freigeistige Intellektuelle und Demokrat, der an der Universität für seine Antikriegshaltung gelegentlich gerüffelt wird, sich davon aber nicht beeindrucken lässt und sich am patriotischsten fühlt, wenn er die USA kritisiert, weil das die Essenz der Freiheit sei.

Wen immer man in den Büros landesweit operierender Umweltgruppen nach einem Kontakt in Anniston fragt, der verweist an Lindell & Kinney. Vielleicht ist es gerade ihre Unterschiedlichkeit, mit der Fähigkeit, verschiedene Zielgruppen anzusprechen, die sie zum Erfolgsduo hat werden lassen. Während sie im Hintergrund akribisch recherchiert, kann man sich ihn gut als Mann vor dem Mikrofon vorstellen. In seinem engen Büro in der Universität wackelt und wippt der 56-jährige in seinem Bürosessel hin und her, während er von dem Protest im letzten September erzählt, wo mehrere hundert Leute durch die Straßen der Stadt zogen, darunter sogar der Sohn von Martin Luther King.

Lindell wurde beschimpft: Sie ramponiere den Ruf der Stadt. „Was gibt es hier zu ramponieren?“, fragte sie

Der Kampf schien Ende der Neunzigerjahre fast verloren zu sein. Das Pentagon schaffte trotz der Proteste Tatsachen. Die Anlage wurde gebaut, erste Testläufe wurden abgeschlossen. Weiterer Widerstand schien zwecklos. „Da wollte ich hier nur noch wegziehen“, sagt Lindell. Doch dann, an jenem Tag, als sie vor dem Kongressausschuss in Washington stand, erfolgte das, was sie als göttlichen Auftrag bezeichnet.

Seither haben sie mit immer neuen Gutachten und Recherchen, die belegen, dass das Pentagon Risiken bewusst verharmlost hat, die Inbetriebnahme verhindern können. Der städtische Katastrophenschutz hat sich mittlerweile auf ihre Seite geschlagen und erklärt, für einen Unfall nicht ausreichend vorbereitet zu sein, da Washington sich weigert, das nötige Geld bereitzustellen. Kongressabgeordnete haben sich eingeschaltet und weitere Studien zur Sicherheit gefordert. Bislang sei wissenschaftlich ungeklärt, welche Langzeitwirkungen die Emission schwach konzentrierter Gifte habe, sagt Lindell. „Solange die Gesundheitsrisiken des Verfahrens unbekannt sind, können wir es nicht akzeptieren.“ Natürlich wisse sie, dass die Waffen letztlich in Anniston zerstört werden. „Alles was wir wollen, ist die möglichst sichere Zerstörung, das heißt keine Verbrennung.“

Das Verrückte an der Geschichte sei, erzählt Rufus Kinney, dass es eine risikoärmere und umweltfreundlichere Entsorgungsmethode gebe, die so genannte Neutralisation. Der Großteil der bestehenden Anlage könne dafür genutzt, müsse nur umgerüstet werden. Andere Staaten wie Colorado und Kentucky hätten sich für diese sauberere Technik entschieden. „Hier kümmert sich niemand um die Umwelt, solange der Dollar rollt. Die Südstaaten sind rückständig, und das wird vom Pentagon schamlos ausgenutzt. Verbrennen ist billiger.“

Rufus Kinney sieht in den USA eine Geschichte ökologischer Ungerechtigkeit. Schon immer seien gesundheitsschädliche Fabriken in die Nähe von Wohnvierteln armer und schwarzer Menschen platziert worden. Anniston sei dafür ein Beispiel. „Die Schwarzenviertel bilden eine Art Pufferzone zwischen den Giftschleudern und den weißen Nachbarschaften.“ Wer Richtung Sperrgebiet die Stadt verlässt, fährt vorbei an leer stehenden, teils verfallenen einfachen Häusern und verwilderten Wohnwagensiedlungen, die an Campingplätze erinnern.

Armut und Elend im eigenen Land machen Rufus Kinney wütend über den Irakkrieg. „Wir wollen anderen eine bessere Welt schenken und haben unsere eigenen Hausaufgaben nicht gemacht.“ In diesem Punkt bleiben sich der leidenschaftliche Kriegsgegner und die glühende Kriegsverfechterin Brenda Lindell fremd.