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Archiv-Artikel

Von den Aufgaben der Bilder

Kommt das Kino vom Mars und die Bildende Kunst von der Venus? Die Begegnungen von Praktiken aus diesen künstlerischen Bereichen haben zugenommen – und doch scheinen Cinephile und Konzeptkünstler immer noch aneinander vorbeizureden

Regisseure wie Atom Egoyan und Isaac Julien arbeiten an der Auflösung des KinosDas, was man sehen kann, kann nicht die letzte Wahrheit eines Kunstwerks sein

von DIEDRICH DIEDERICHSEN

Berlinale 2000. Die deutsche Kinopremiere des Filmes „Teatro Amazonas“ ruft geradezu antagonistische Reaktionen hervor. Bei der Diskussion prallen Gegner und Befürworter aufeinander, ohne dass ein Austausch von Argumenten erkennbar wäre. Missverständnisse anlässlich eines provokanten Filmes? „Teatro Amazonas“ zeigt immerhin etwa 45 Minuten in einer einzigen unbewegten Einstellung von der Bühne aus ein Publikum im berühmten Theater von Manaus. War das zu viel, zu streng?

Wohl kaum, gerade die nicht einverstandenen Reaktionen kommen aus einem cineastischen Umfeld, das härtere, kargere Kost durchaus gewohnt ist. Die Bildende-Kunst-Sozialisierten stellen hingegen Fragen nach dem Konzept, der Auswahl der Akteure, dem Verhältnis zur Postkolonialismus-Debatte. Die Cinephilen fragen nach Brennweiten, nach Regieanweisungen und nach anderen Faktoren, die eher das konkrete Bild als seine Vorgeschichte betreffen. Aber niemand sortiert sich freiwillig in eines der beiden Lager ein, beide Seiten greifen auf das bewegte Bild im Gefühl der Zuständigkeit zu. Bei der metadiskursiven Frage, warum hier eigentlich alle so aneinander vorbeireden, schlägt hinterher einer die deutsche Geschichte als Grund vor: „Das waren Ostler und Westler, die haben unterschiedliche ästhetische Sozialisationen.“

Kommen Cineasten tatsächlich aus der DDR und Konzeptualisten aus der BRD, Kunst vom Mars, Kino von der Venus? Als sich ähnliche Konfrontationen zwei Jahre später bei mehreren James-Benning-Premieren wiederholten, konnte man sich schon entschließen, die Verständnisschwierigkeiten langsam als Symptom einer Situation zu verstehen, deren andere Seite die ewigen gleich lautenden Lamenti von Kunstkritikern sind, dass man bei Biennale und documenta nur noch Filme und Videos sähe.

Die Begegnung von Praktiken und Mentalitäten aus Kino und Kunst haben in den letzten Jahren in den verschiedensten Arenen zugenommen. Auf Filmfestivals auftretende Filmemacher, die aus dem Kunstkontext kommen, wie Sharon Lockhart, die Regisseurin von „Teatro Amazonas“, oder Matthew Barney sind dabei noch die seltenere Erscheinung. Ähnlich wie schon mal in den 60er-Jahren üben die bewegten Bilder eine enorme Attraktivität auf eine Bildende Kunst aus, die gegenwärtig trotz Mal-Hype weder über Leitmedien noch über ein zentrales politisches Paradigma definiert wäre.

Damals jedoch galt eine zentrale Frage der Bildenden Kunst an das Kino dem sequenziellen Bildstreifen selbst und seiner Ontologie. In der Logik des modernistischen Blicks auf die „wahre Natur“ des Mediums als zentrales Kriterium von Kunstentscheidungen kümmerten sich Leute wie Michael Snow, Hollis Frampton oder Paul Sharits um die Grundbegriffe der inszenierten Bewegung, der Kamerabewegung und der Materialität des Films. Übernimmt man Parker Tylers Unterscheidung von Avantgarde und Underground, dann hatte die Bildende Kunst auf diese Weise einen Berührungspunkt mit der Avantgarde oder dem experimentellen Film.

Die andere Begegnung, nun unter der Überschrift Underground, konzentrierte sich auf die Konfrontation von Kamera und einer anderen, neuen, nicht mehr als Rollenträger fixierten Sorte von Darstellern: Exzentriker, originelle Typen und ihre in Improvisationen rekonstruierten Milieus. Dies war die Welt von vor allem Warhol und seinen Superstars.

Natürlich waren die damaligen Begegnungen wechselseitig, und die heute oft klare Zuordnung der einzelnen Akteure zu Feldern und Traditionen war nicht nur bei Warhol und Jack Smith offen, deren Monografien auch heute noch genauso in der Film- wie in der Kunstabteilung zu finden sind.

Heute sind medienreflexive Fragen weniger am Material ausgerichtet und auch nicht an der Funktion der Darsteller oder der Kameraarbeit, heute geht es um den letzten bislang – weitgehend – unangetasteten Parameter: den Kinoraum. Nachdem Video als Medium von Filmern wie Künstlern wie Kulturindustrie immer mehr zu einer Ortlosigkeit des Kinematografischen beigetragen hat, versucht man heute durch Bauten, Konstellationen und Installationen, also vom Raum aus, das Kino – den Raum mit Projektor, Gestühl und Projektionsfläche – als Dispositiv neu zu denken oder auch seine überraschende Permanenz neu zu rechtfertigen.

Nicht nur eine Fülle von Projekten aus der Welt der Bildenden Kunst stellen sich diesen Fragen. Auch viele sehr unterschiedliche Filmemacher wie Isaac Julien, Atom Egoyan, Chantal Akerman und Harun Farocki nutzen den Museums- oder Galerienraum, um neben oder zu ihren Filmen an einer Erweiterung oder Auflösung des Kinobegriffs zu arbeiten – jenseits alter, vor allem techno-optimistischer Bemühungen, die es auch in den 60er-Jahren schon gab.

In dieser Konstellation gibt es gerade in Deutschland auch den zusätzlichen kulturökonomischen Zwang einer Art verdeckten Privatisierung der Avantgarde-Kino-Förderung. Da die Filmförderung heutzutage weitgehend nur noch Filme durchfüttert, von denen sie meint, dass sie sich ökonomisch rechnen und die dem vorauseilend nach unten korrigierten Massengeschmack entsprechen, können die Nachfahren und Fortsetzer des alten neuen deutschen Films und andere Avantgardisten ihre Arbeiten oft nur noch im Kunstfeld realisieren. Das bedeutet, dass neben Museumsetats die privatwirtschaftlich unterfütterte Galerienkultur Aufgaben übernimmt, die eine staatliche Förderung vernachlässigt. Natürlich will sie dafür auch etwas, nämlich das, was privates Geld in der Bildenden Kunst unabhängig von anderen spezifischen Begehrlichkeiten immer als Erstes will: mehr singuläre Objekthaftigkeit, mehr Aura, weniger allgemeinen Gebrauchswert.

Unter diesen Bedingungen aufeinander verwiesen, ist es nicht nur aus diskurspragmatischen Gründen wünschenswert, dass sich die Milieus besser verstehen; es ist auch Voraussetzung für eine Selbstverständigung unter solchen neuen (kultur-)politischen Bedingungen. Damals bei den Diskussionen um Lockhart oder Benning fiel auf, dass für die Film-Fraktion das gefilmte und projizierte Bild immer die letzte Instanz blieb für jede Begründung, ob eine Filmarbeit als gelungen anzusehen ist oder nicht. Konzeptuelle Anordnungen wie Bennings materialbezogen hergeleitete Entscheidung über die Länge der Einzelbilder seiner Kalifornien-Trilogie verloren in der Diskussion an Bedeutung. Wichtiger waren dem Autor die Drehorte, unvorhersehbare Ereignisse, Wind, vorbeifahrende Eisenbahnzüge: Kontingenz als Wirklichkeitsgarantie.

Die Verteidiger von Lockhart hingegen insistierten auf der Wichtigkeit der vielen konzeptuell bedeutsamen Vorarbeiten. Die Künstlerin hatte das von ihr abgefilmte Publikum nach einem genau erarbeiteten soziokulturellen Schlüssel als Repräsentanten unterschiedlicher soziologisch und ethnografisch untersuchter Stadtteile ausgewählt und dies wiederum über monatelange historische Vorarbeiten und Interviews vor Ort in einem Team mit Spezialisten erarbeitet. All dies kann man nicht sehen, wenn man nur die eine Einstellung betrachtet, wenn man lediglich die Feinheiten dessen würdigt, was von dem Kameraauge in diesen 45 Minuten gesehen wird.

Dass das, was man sehen kann, nicht die letzte Wahrheit eines visuellen Kunstwerks sei, war aber ein zentrales Anliegen der neokonzeptuellen Kunst der 90er. Gegen eine solche falsche Essenzialisierung des Retinalen betonte man die kritische Diskussion seiner gesellschaftlichen Konstruktion. Der Vormarsch der Blackboxes und anderer für den Museumsraum konstruierter, neuer Projektionsräume wäre da ein Backlash, ein Zurück zur Hegemonie des Visuellen. Dem entgegnen allerdings viele Akteure einer Black-Box-Kunst, dass sie gerade in der Arbeit mit Bildern praktisch vollziehen, was der Neokonzeptualismus meist nur im theoretischen Diskurs gefordert hat: Kritik der Bilder und ihrer Bedingungen.

Kürzlich saßen wir in einer Diskussionsrunde zusammen und redeten über Valie Export – eine weitere Künstlerin, die schon seit einigen Jahrzehnten relativ präzise zwischen den beiden Milieus arbeitet. Aber meiner Ansicht nach ist sie mit ihren frühen Arbeiten eher bei den aus der Kinokultur kommenden Denkstilen an der Grenze von Expanded Cinema und Happening zu situieren und steht erst seit den mittleren 70ern den Milieus der Bildenden Kunst näher, nicht zuletzt, weil in diesem Milieu der avanciertere feministische Diskurs zu finden war.

Es scheint also, dass auch in ihrer Biografie sich schon unsere hier erzählte Geschichte präfiguriert: dass nämlich die Bewegungen zwischen den Milieus in einer Zeit, wo es harte mediale Unterschiede zwischen Bildender Kunst und den bewegten Bildern schon lange nicht mehr gibt, oft Fluchtbewegungen sind. Suche nach einem Asyl für den Diskurs in einer ansonsten diskurs- und theoriefeindlichen Kulturlandschaft, Asyl für den experimentellen Film in einer von der Diktatur des Boulevard bestimmten Kulturpolitik, Asyl aber auch für zwei bis heute nicht miteinander versöhnte, aber jede für sich gefährdete künstlerische Grundsatzpositionen: dass es nämlich die Aufgabe des fotografierten und gefilmten Bildes immer noch sei, die äußere Wirklichkeit zu erretten, dass es zum anderen die Aufgabe kritischer und damit zeitgemäßer Kunst sein müsse, deren Bedingungen jenseits der bloßen Produktion neuer Bilder zu diskutieren.