: Dr. Dean bleibt zurück
VON MICHAEL STRECK
Es gibt Rennen, deren Ausgang entscheidet sich in einem Stolpern oder einem unachtsamen Schritt. Doch der Läufer, wenn auch abgeschlagen, kämpft verbissen weiter bis zum Ziel. So ergeht es zurzeit Howard Dean.
Statt wie erwartet bei der ersten Etappe zur Wahl des demokratischen Präsidentschaftskandidaten in jenem Bundesstaat im Mittleren Westen auf der Siegertreppe zu stehen, musste der Exgouverneur aus Vermont am 19. Januar eine bittere Niederlage einstecken: Er landete abgeschlagen auf dem dritten Platz. Im Hotelsaal, wo eigentlich die Sektkorken knallen sollten, sprang der untersetzte, kräftige Dean auf die Bühne, riss sich das Jackett vom Leib und griff nach dem Mikrofon. Das feurige Temperament des Mannes war bekannt, auch seine verbalen Schnellschüsse, mit denen er sich wiederholt in die Bredouille gebracht hatte. Doch was das Publikum im Saal und später auf den Fernsehbildschirmen zu sehen bekam, war bizarr.
„Wir werden niemals aufgeben!“, donnerte er mit heiserer Stimme und fuchtelte dabei mit der Faust. Sein Gesicht glühte, seine Augen irrlichterten. Dann bellte er alle Staatennamen durch den Raum, die er zu gewinnen gedenke, und endete mit jenem mittlerweile berühmten schrillen Schrei, der klang, als sei er soeben verwundet worden. Spätestens hier nahmen die meisten Demokraten Reißaus.
Seit diesem Auftritt – als „I have a scream“-Rede in die Annalen der US-Wahlkampfgeschichte eingegangen – hat Dean etwa genauso viele Chancen, die Nominierung zu gewinnen, wie Linksaußen Dennis Kucinich oder der schwarze Prediger Al Sharpton. Doch dem für seine Sturheit bekannten Dean fällt es schwer, diese Tatsache zu akzeptieren. Dachte er jüngst noch laut darüber nach, aus dem Rennen auszusteigen, sollte er heute auch die liberale Hochburg Wisconsin verlieren, machte er kurz darauf einen Rückzieher und schwört nun seine verbliebenen Fans auf Durchhalten ein. Doch Umfragen zeigen ihn im Staat an den großen Seen weit hinter Vietnamveteran John Kerry.
Dean hat bislang keinen einzigen Bundesstaat gewonnen. Seine Rivalen haben ihm überdies seine ureigensten Wahlkampfthemen geraubt. Mehr noch, er hat die Markenzeichen seiner eigenen Kampagne geopfert. Der selbst ernannte Außenseiter ließ seinen Wahlkampf von einem Washington-Lobbyisten organisieren, jener Zunft, deren Macht er wortgewaltig gegeißelt hatte. Auch sein Aushängeschild, ein fiskalisch Konservativer zu sein, ist arg verbeult, nachdem er 40 Millionen Dollar Wahlkampfspenden für erfolglose TV-Werbung in den Sand gesetzt hat und inzwischen kurz vor der Pleite steht. Nun hat auch noch sein oberster Wahlkampfmanager Steven Grossman am Sonntag vorsichtshalber durchblicken lassen, dass er im Falle einer erneuten Niederlage gerne den Brötchengeber wechseln und sich Kerry andienen würde.
„Dr. Dean“, der vom Mediziner zum Politiker gewandelte Neuengländer, hat das politische Kunststück vollbracht, einen scheinbar uneinholbaren Spitzenreiterstatus innerhalb von nur fünf Wochen zu verspielen. Noch Ende Dezember schien es, als habe er die Nominierung in der Tasche – in Umfragen rangierte er weit vor seinen Kontrahenten. Das Weiße Haus stellte sich auf ihn als Bush-Herausforderer ein, sein Konterfei erschien auf den Titelseiten der Topmagazine, Dean lockte tausende zu seinen Auftritten, elektrisierte sein Publikum, wurde frühzeitig von mächtigen Gewerkschaften und Politpromis wie Al Gore unterstützt und stieg auf zum neuen Star der Demokraten. Doch ein Ereignis im fernen Irak läutete seinen Fall ein: die Gefangennahme von Saddam Hussein.
Während alle anderen Kandidaten Bush und die GIs beglückwünschten, schwadronierte Dean, die Festnahme werde Amerika nicht sicherer machen. Der Mann sollte Recht behalten, wenige Tage später wurde „Code Orange“ ausgerufen, und Terrorangst bestimmte das Jahresende. Doch seine Äußerung erwies sich als taktischer Fehler. Nicht nur machte er sich angreifbar, Medien und Wähler schauten plötzlich genauer hin, was Dean zu Verteidigungs- und Sicherheitsfragen zu sagen hatte. Mit Argusaugen verfolgte die Presse jeden Satz und jeden Schritt, um sich auf noch so kleine Ungereimtheiten zu stürzen. Wachsende Unsicherheit war die Folge. In den verbleibenden TV-Debatten stahlen ihm andere Kandidaten die Show. Mehr und mehr schälte sich die nunmehr alles beherrschende Frage, „Ist er wählbar, hat er staatsmännisches Format?“, heraus. Die Republikaner rieben sich bereits die Hände, sie gaben dem scharfzüngigen Kriegsgegner keine Chance gegen Bush. „Bitte nominiert diesen Mann“, spottete das konservative Blatt The National Review.
Die Demokraten werden ihnen diesen Gefallen nun nicht tun. Auch wenn der endgültige Abgesang auf Dean angestimmt werden kann, wird er nicht nur als großer Verlierer und Fußnote in die Geschichte der Demokratischen Partei eingehen. Wie einst Paul Tsongas, der 1992 gegen Bill Clinton scheiterte, der Partei jedoch den Stempel fiskalischer Verantwortung aufdrückte, kommt Dean das Verdienst zu, die Demokraten aus ihrer Starre, Mutlosigkeit, ja ihrem Fatalismus, gegen Bush ohnehin nichts ausrichten zu können, befreit zu haben.
Dean war dabei innovativ. Wie kein anderer vor ihm nutzte er das Internet, um sich von „Corporate Money“ unabhängig zu machen, Millionen von Kleinspenden zu sammeln und vor allem junge Leute für Politik zu begeistern. Die „Deaniacs“ pilgerten hunderte Meilen von Kentucky nach Iowa, um den Wahlkampf vor Ort zu unterstützen. Sie riefen online die „Meetups“ ins Leben, bei denen sich Deans Anhänger im ganzen Land versammelten. So wie in der sterbenden Ex-DDR am Montag demonstriert wurde, war am zweiten Mittwoch im Monat „Dean Day“. So wurde aus einen Wahlkampf eine Bewegung.
Rückblickend muss die jedoch mit Skepsis betrachtet werden. Wie sich nun herausstellte, glich sie viel eher einer Internetblase als substanzieller Mitgliedermobilisierung. Denn Onlinefans und Spendenklicks lassen sich eben doch nicht so leicht in Wahlstimmen ummünzen. Deans Vermächtnis für die Demokraten ist daher weniger in der Logistik des Wahlkampfs zu suchen denn vielmehr in seiner Psychologie.
Nur wenige Monate ist es her, dass sich die Demokraten in Washington als ernst zu nehmende Opposition verabschiedet hatten. Während es Bush meisterlich verstand, die Terroranschläge für seine radikal-konservative Agenda zu nutzen und innerparteilichen Streit in der Irakfrage zu ersticken, boten die Demokraten das Bild eines kakophonen und einfallslosen Haufens. Im Kongress nickten sie die Irakkriegresolution ab, wurden von Kritikern und Parteibasis als „Bush light“ beschimpft und verloren bei den Parlamentswahlen im Herbst 2002 den Senat, sodass sich der Kongress seither fest in der Hand der Republikaner befindet. „Die Demokraten sind gehirntot“, resümierte damals Kolumnist Charles Krauthammer in der Washington Post.
Doch dann kam Dr. Dean, der Angry Man. Schonungslos und angriffslustig kanalisierte er den weit verbreiteten Ärger unter den Parteiaktivisten. Er setzte auf Konfrontation statt auf Kompromiss. Er sprach aus, was viele dachten, kein Demokrat aus dem Establishment sich jedoch zu sagen traute: dass die Bush-Regierung eine radikale Politik betreibe und der Irakkrieg falsch sei. Er entriss den Republikanern die Meinungshoheit zum Patriotismus. „Bevor Dean antrat, glaubte jeder, dass es unmöglich sei, Bush anzugreifen, ohne unpatriotisch zu wirken“, sagte James Rubin, Vizeaußenminister unter Bill Clinton. Ein Ruck ging durch die demokratischen Reihen. Dean befreite sie von ihrer eigenen Kleingläubigkeit. Mehr als jedem anderen verdankt ihm die Parteibasis, dass sie heute so kämpferisch, geschlossen und optimistisch ist, wieder gewinnen zu können. „Viele Demokraten fühlen, dass sie ihm Anerkennung schulden“, sagt Matthew Crenson, Politologe der Johns Hopkins University in Washington. „Sie werden ihm salutieren, auch wenn sein Schiff nun sinkt.“
Aber Dean hat mehr noch getan. Er hat die Demokraten geheilt. Ob gewollt oder nicht, er verordnete ihnen eine Wuttherapie. Er gab ihnen Zeit und Raum, ihre Verachtung für Bush, zuweilen ihren Hass abzureagieren. Mit Hass gewinnt man keine Wahlen, wie die Republikaner unter Clinton erfahren mussten. Nun präsentieren sich die Demokraten „kämpferisch, aber ohne Schaum vor dem Mund“ , wie der Economist feststellte.
Howard Dean hat vielleicht nach der nächsten verlorenen Wahl in Wisconsin seinen letzten großen Auftritt. Er war über ein Jahr der richtige Mann zur richtigen Zeit. Doch am Ende siegte die Vernunft über den Bauch. Dean wurde von Frauen, Studenten und Linksliberalen verehrt und geliebt. Kerry dagegen ist „wählbar“. Ein Anstecker in Iowa und New Hampshire formulierte es so: „Dated Dean – Married Kerry“.