WENIGER ARZTBESUCHE BEDEUTEN NICHT WENIGER GESUNDHEIT : Zu schnelle Aufgeregtheit
Eines steht fest: 40 Prozent weniger Arztbesuche ergeben nicht 40 Prozent weniger Volksgesundheit. Alles andere ist unklar: Es hat immer noch niemand gemessen, wer wirklich kränker ist, weil er seit Jahresbeginn dank Praxisgebühr noch nicht beim Arzt gewesen ist. Über starke Rückgänge der Patientenzahlen klagen vor allem Orthopäden, Hals-Nasen-Ohren- und Hautärzte. Mit Verlaub: Das sind keine Ärzte, die täglich mit lebensbedrohten Menschen zu tun haben.
Vielmehr lässt der Rückgang der Arztbesuche um durchschnittlich zehn bis fünfzehn Prozent vermuten, dass sehr viele, die im Januar und Februar sonst zur Routinekontrolle, zum Abholen einer Zweitmeinung oder aus alter Gewohnheit erschienen wären, sich das wegen der zehn Euro noch einmal überlegen. Viele schieben den zwar grundsätzlich nötigen, aber irgendwie auch nicht drängenden Arztbesuch auch einfach vor sich her. Wenn diverse Ärzteverbände jetzt nahe legen wollen, dass alle, die seit Jahresbeginn nicht bei ihnen aufgetaucht sind, Schwerstkrankheiten verschleppen, ist das unlauter. Im Übrigen freuen sich viele beliebte und deshalb überlaufene Ärzte auch, dass sie für die restlichen neunzig oder achtzig Prozent der Patienten umso mehr Zeit haben.
Es gibt eine einzige Gruppe von Patienten, die von der Praxisgebühr wirklich bedroht ist: alle, die sich die zehn Euro tatsächlich nicht leisten können, die aber gleichzeitig einem großen Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind. Vor allem sind das Sozialhilfeempfänger, und unter ihnen vor allem die Junkies und die Obdachlosen. Sie gehen erstens nur dann zum Arzt, wenn es nichts kostet. Zweitens werden sie den notwendigen Papierkram kaum bewältigen, der für eine Befreiung von der Zuzahlung notwendig ist: ausrechnen, wann die zwei Prozent vom Bruttoeinkommen erreicht sind, Quittungen sammeln und so weiter. Es ist ein Skandal, dass die Gesetzgeber dafür keine Härtefallregelungen geschaffen haben. Vielleicht nutzen Kassen und Ärzte die Praxisgebühr und die dank Patientenrückgang neu gewonnene Zeit ja dafür, sich um diese Risikogruppen zu kümmern. ULRIKE WINKELMANN