ulrike herrmann über Non-Profit : Aussteigen unter Palmen
Reiner hat kein Geld und kein Auto, keinen Strom und keine Kartoffeln. Er ist wirklich glücklich
Er ist glücklich. „Hier bin ich frei.“ Das sagt er allen, die vorbeikommen. Es kommen aber nicht viele vorbei. Reiner ist ausgestiegen und wohnt jetzt auf Gomera. Man könnte sein neues Leben so fotografieren, dass es aussieht wie auf einer Postkarte. Vorn würde man die Terrasse sehen mit den drei Palmen, dahinter würde sich die blaue Unendlichkeit öffnen. Man würde ganz viel Himmel sehen und, weit in der Ferne, ein bisschen Meer.
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„Leben, wo andere Urlaub machen.“ Jeder vierte Deutsche träumt angeblich davon; das Statistische Bundesamt zählte im letzten Jahr 109.000 „echte Fortzüge“.
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Bei Reiner kam vor fünf Jahren „einfach alles zusammen“. Seine Freundin verließ ihn, weil er sich – „emotional“ – schon vorher von ihr verabschiedet hatte. Diese Reihenfolge ist ihm wichtig. Dann starb sein Vater, und ihn „hielt nichts mehr“. Vielleicht wäre er trotzdem in Deutschland geblieben, wenn es nicht „diesen Ärger“ im Betrieb gegeben hätte. Darüber spricht er nicht gern, jedenfalls trennte man sich per Auflösungsvertrag. Wenn man ihm zuhört, dann war es seine eigene Entscheidung. Damals war er 45 Jahre alt, hatte eine kleine Abfindung und ein kleines Erbe. Er sagt: „Es war Zeit für Neues.“
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Angeblich wandern die meisten Deutschen im Frühjahr aus. Auch die Aussteigerseiten im Internet würden am häufigsten im März angeklickt.
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Gomera war eher Zufall; Reiner mochte die Barrancos, die Schluchten, die die Insel zerreißen. Also suchte er sich eine Hütte, die diesen schwarzen Tiefen möglichst nahe war. Das nächste Dorf ist eine Fußstunde und einen Barranco entfernt. Man könnte auch Auto fahren, denn die EU-Regionalförderung will es nicht länger zulassen, dass es straßenlose Einsamkeit in Europa gibt. Reiner hätte auch gern „so einen kleinen Transporter“, aber sein kleines Vermögen ist aufgezehrt. Gomera, das ist für ihn jetzt die Insel, „wo man keine Vorräte anlegen kann“. Nicht auf dem Konto, nicht im Schuppen. Er hatte dort schon Platz geschaffen für die Kartoffeln, die er angebaut hatte. Aber dann kamen die Heuschrecken. Im nächsten Jahr blies drei Tage lang der heiße Wüstenwind aus Afrika, der alles verdorren ließ, und wieder ein Jahr später brachte der Passat zu viel Regen.
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Die meisten Gomeros sind vor diesem gnadenlosen Klima geflohen. Nur Touristen kann die Schlagzeile überraschen: „Präsident von Gomera will Beziehungen mit Venezuela intensivieren.“ Da äußert sich nicht der bizarre Größenwahn eines Inselfürsten, sondern der besorgte Landesvater. Als Venezuela noch ein reiches Ölland war, sind viele tausend Gomeros dorthin ausgewandert. Ihre Hütten zerfielen. Bis die deutschen Aussteiger kamen.
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Reiner kann nicht mehr. Jahre hat er gekämpft, um aus seiner Ruine ein Haus zu machen, wie man es aus Deutschland kennt. Mit Strom, Wasser, Fernsehen und vielleicht sogar einer Waschmaschine. Jetzt hat er aufgegeben und lebt mit Kerzen. Aber eigentlich versteht er immer noch nicht, warum er so hausen muss und nicht „irgendein Geschäft aufziehen“ konnte. „Andere haben es doch auch geschafft.“ Dr. Scriba zum Beispiel, der die Pauschaltouristen mit botanischen Führungen beschäftigt. Oder „Capitano Claudio“, der die Pauschaltouristen mit Bootsfahrten zu den Walen amüsiert. Oder die Besitzer jener Kneipen, wo sich Pauschaltouristen wie Aussteiger fühlen können. Vielleicht ist es ja so schlicht, dass sie zehn Jahre früher da waren und sich die besten Plätze am Ministrand gesichert haben.
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74 Prozent aller Aussteiger denken vorher, es sei leichter im Ausland. Nach ein paar Jahren glauben dies nur noch 9 Prozent.
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Manchmal fragt sich Reiner, was werden soll, wenn er „nicht mehr krauchen kann“. Wenn er es nicht mehr zu Fuß ins nächste Dorf schafft und als Gelegenheitsarbeiter auf den EU-Baustellen nicht mehr taugt. Er nimmt sich die Angst, indem er es auch Fastfremden sagt: „Dann gehe ich bei Regen in den Barranco.“ Wenn es glitschig genug ist, um in die schwarze Tiefe zu stolpern. Zurück nach Deutschland will er nicht. Auf keinen Fall. Er ist doch glücklich auf Gomera.
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