Osterspaziergang mit Cornelia

Keine Bewegung scheint das Nachkriegsdeutschland so geprägt zu haben wie die für den Frieden. Ihr prominentestes Ereignis war und ist der Ostermarsch. 1960 fand der erste statt. Einer, der dabei war, berichtet, wie es sich wirklich zutrug – eine viertägige Demonstration durch ein Land der kalten Krieger, aber voller Anmut und Verheißung

von BERND HANS MARTENS

Sie ging neben mir, magere vierzehn, und ließ ihren Pferdeschwanz vor meinen Augen zappeln. Manchmal lief sie mit einem Fuß auf dem Bordstein, dem anderen auf der Straße, als trainiere sie ihre Hüften. Sofort kamen die Ordner – oder waren es Polizisten? – und scheuchten Cornelia auf den Bürgersteig zurück. Auf der Straße zu laufen war verboten. Damals, am Karfreitag 1960, war ja fast alles verboten, Musik, öffentlicher Hüftschwung, weitreichende Gedanken. Überhaupt, Jungsein: Das war ganz verboten.

Meine Cousine Cornelia und ich, wir waren die Einzigen, die sich das Verbieten verbaten. Schon gleich am Hamburger Hauptbahnhof. Von dort ging es los, zusammen mit Mutter, Tante, Onkel und ungefähr hundertzwanzig anderen. Wir machten Geschichte, wussten es aber noch nicht: Denn wir waren beim allerersten Ostermarsch in der Bundesrepublik Deutschland dabei.

Natürlich wollte ich nicht mit. Wollte nicht, dass die Leute am Wegesrand, bevor sie uns böse mit Krokanteiern bewarfen, ihren Zeigefinger auf mich hetzten. Oder einfach ohne Vorwarnung riefen: „Ab nach drüben!“ So waren die Leute. Außen zweigeteilt, und auch in ihrem Inneren verlief der Eiserne Vorhang.

„Drüben“ war ein bundesdeutsches Kürzel für Ostzone oder DDR oder Sowjetisch Besetzte Zone oder Mitteldeutschland. Jedes politisch schwierige Gespräch wurde auf der Stelle abgewürgt mit der Wendung, doch „rüber“ zu gehen. Es stand für selbst ausgelegten Stacheldraht vor der Birne. Drüben, das war ein schlimmeres Wort als „Nazischwein“. Drüben, das war von 1949 bis 1968 das „Wort des Jahres“.

Schon Wochen vor dem Ostermarsch debattierte Mutter mit Onkel Theo, was man machen könne und was nicht. Aufgeschreckt lief Mutter in der Küche umher, als ginge es um ihr Leben. Und genau darum ging es ja eigentlich auch. Einige Monate vorher war die allererste Batterie Honest-John-Raketen mit Atomsprengköpfen in unserem Teilstaat, in der Lüneburger Heide, von US-Streitkräften aufgestellt worden.

Das wollte sich Mutter nicht gefallen lassen. War sie doch doppelte Trümmerfrau, einmal in Hamburg ausgebombt, später in Magdeburg noch einmal. „Auch du kommst mit!“, rief sie und begann Kartoffelsalat vorzubereiten. Schlafsäcke wurden ausgelüftet, Hansa- und Leukoplast zusammengesucht. Ich fand kein Gegenargument.

Für den Frieden war ich sehr wohl, für die einhundertzwanzig Kilometer lange Viertagetortur war ich nicht. Man könnte doch ebenso in Frieden segeln gehen. Erst als es hieß, Cornelia würde mitkommen, freute ich mich auf Ostern, auf ihren Pferdeschwanz und ihren ahnungsvollen Blick.

Zu zweit, zu dritt nebeneinander waren wir von der Bahnstation Harburg in Richtung Schwarze Berge losmarschiert. Das liegt noch in Hamburg, südlich der Elbe, und ist von leicht hügeligem Profil. Wir waren nicht unbedingt ein bunter Haufen, das Grau der Regenmäntel und Pellerinen überwog. Doch eine Gruppe mit so unterschiedlichen Anschauungen, wie es Quäker, Falken, Freigeistige, Kommunisten, Jusos, Naturfreunde, Parteilose und Versöhnungsbündler nur sein konnten.

Am Rande des Rosengartens, mitten im Wald, wurde ein weiteres Verbot herausgegeben: das, zu diskutieren. Aus Furcht hatte es die Marschleitung beschlossen, um nicht am Ende total zerstritten am Raketenübungsgelände in der Lüneburger Heide dazustehen. Was hätte das für einen Eindruck gemacht: einerseits Frieden für Ost und West zu fordern, andererseits selbst keinen Frieden halten zu können?

Cornelia hielt sich nicht an das Diskutierverbot. Sie wollte wissen, wie es sei, wenn sich die Jungens einen Tennisball vorn in den Hosenschlitz steckten, um männlich zu wirken. „Dein Freund Jens vielleicht?“ Ich stritt es ab. Es ist eh wenig Platz vorhanden. Ich erzählte ihr, dass Jens sich Gummipolster in die Schuhe tat, zur Innenseite schräg ansteigend. So konnte er mit dem Becken enorm weit ausholen und Elvis’ sexualisierten Gang kopieren. Das stritt Cornelia wiederum ab – so ging es weiter bis nach Nenndorf.

Hin und wieder gelang es Mutter oder Tante Gela, an irgendeinem Dorfrand ein Flugblatt loszuwerden. Persönlich, mit fröhlich-friedlichen Ostergrüßen wurde es überreicht. „Noch trägt die Honest-John-Rakete eine Zementfüllung zu Übungszwecken“, hieß es. „Aber bald ist es ein Werkzeug zum atomaren Massenmord! Und das nennt Dr. Adenauer die Fortentwicklung der Artillerie! Protestieren Sie. Zeigen Sie Ihre Sympathie, begrüßen Sie die Gegner der Atombewaffnung!“ Man zeigte uns den Zeigefinger. Uns blieb nichts anderes übrig, als weiterzumarschieren, wegen der Kälte in Sandwichpappen gehüllt.

Gelegentlich ließ sich Onkel Theo vom vorderen Zugteil zu uns „Osterküken“ zurückfallen. Dann gab es für Conny und mich so etwas wie allgemeine Lebenskunde im Atomzeitalter. „Es gibt keinen Grund, den atomaren Massenmord vor unserem Gewissen zu rechtfertigen“, sagte Onkel Theo. „Nicht zur Verteidigung der freiheitlichen Grundordnung. Nicht zur Befreiung der Massen vom kapitalistischen Joch. Merkt euch das – Koexistenz, also!“ So weit waren wir damals schon, auf dem Weg nach Bergen-Hohne. Dann bewegte sich Onkel Theo wieder in Richtung Zuganfang. Gern hielt er sich nahe des Transparents „Die Bombe ist böse“ auf.

Plötzlich, in der Nordheide, wurde der Marsch abrupt gestoppt. Was war los? Ordner liefen aufgeregt hin und her. Schnell hatte es sich herumgesprochen: Einige Leute der Jungen Aktion waren beim Politisieren erwischt worden. Nun zog sich die Marschleitung zur Beratung in den Straßengraben zurück und diskutierte das Diskutierverbot.

Wir standen im Schneeregen, im typisch norddeutsch-nasskalten Osterwetter. Lange hatte die Marschleitung zu tun, bevor sie den Mehrheitsbeschluss bekannt gab: „Kein Unterwanderungsverdacht durch kommunistische Bestrebungen!“ Weiter ging es, die lange, lange Straße entlang.

Der Ort Sprötze, hinter den Harburger Bergen, war unser erstes Tagesziel. Eine Zwischenkundgebung wurde auf dem Dorfplatz abgehalten. Leider blieb die Anteilnahme der Bewohner auf den Gardinenblick beschränkt. Sympathie für uns, die Gegner der Massenvernichtungswaffen, zeigte auch hier kaum jemand. Doch zufrieden mit der Tagesleistung und in Freundschaft mit uns selbst, suchten wir die uns zugewiesenen Scheunen zur Übernachtung auf.

Um festzustellen, dass uns die von den Bauern im Vorfeld zugesagten Plätze verschlossen blieben. Wenige Tage vorher war der Verfassungsschutz unsere Route abgefahren und hatte die Leute entsprechend aufgeklärt. Aber auch das erfuhren wir erst später.

Es blieb also ungemütlich. Dabei hatte ich es kaum erwarten können, im Stroh zu liegen. Cornelia in meiner Nähe, ihr Blick … Ein bisschen Bammel hatte ich schon, meine Cousine war drei Monate älter als ich, ihr Busen begann unter ihrem Pullover gerade aufzumucken. Wo würde das hinführen? Zu der Zeit war ich altersgemäß ein wenig gespalten, aber hoffnungsfroh. Wir werden schon sehen, sagte ich mir. Mein eines Ich sprach mir den Mut des Entdeckers zu, während das andere vorgab, alles Grundlegene des Lebens bereits zu kennen.

In irgendeiner Turnhalle kamen wir schließlich doch noch unter. Ich kroch früh in meinen Schlafsack. Von Onkel Theo und ein paar Freigeistigen umlagert. Eng war es, kalt und von Cornelia nicht viel zu sehen. Der schönste Teil von ihr jedenfalls nicht.

Anderntags wanderten wir in die Lüneburger Heide hinein. Vormittags hatte sich mein Onkel an meiner Seite gehalten, gut gelaunt im Schneeregen versuchte er mir zu erklären, was es heißt, ein Pazifist zu sein. „Dem Gegenüber musst du klarmachen, dass er mit jedem getöteten Menschen immer auch ein Stück von sich selbst umbringt! Verstehst du?“ Ich fuchtelte mit den Händen, sagte: „Hmm-ja“ und „Ach-so!“

Es war schwierig. Zu den körperlichen Anstrengungen kamen nun auch noch intellektuelle Vertracktheiten hinzu. Dann dachte ich an einen Kriegsversehrten, manchmal sah man sie, mit eineinviertel Beinen. Oder blind, mit durchlöcherter Seele. Und das half, zumindest ahnte ich, was gemeint war. Mutter, die schräg hinter mir lief, sagte, dass Onkel Theo ein ethischer Pazifist sei. Nun schwiegen alle. Es musste etwas besonders Feines sein, dachte ich, wahrscheinlich der höchste Rang unter den Pazifisten.

Das Wetter war weiter gegen uns. Schnee und Regen tobten abwechselnd oder zusammen durch den norddeutschen Himmel. Cornelia klagte gelegentlich über Fußschmerzen. Hinten rechts.

Da hieß es erneut: Stopp! Die Marschleitung zog sich wieder zur Beratung in den Straßengraben zurück. Tante Gela und ihre Tochter auch. Die Unterbrechung wurde zur Wundbehandlung genutzt, Mutter assistierte mit Hansaplast. Es musste ein schwerwiegendes Vergehen vorgefallen sein. Die Beratung wollte nicht enden. Anlass war eine Attrappe. Eine fünf Meter lange aus Pappe nachempfundene Atombombe mit der Aufschrift „Ich tötete in Hiroschima 240.000 Menschen!“

Dieses Pappmonstrum war schon öfter auf vorigen Veranstaltungen in Hamburg mitgeführt worden und galt mittlerweile als Markenzeichen der linken „Junge Aktion gegen den Atomtod“. Nun war die Abdeckplane dieser Attrappe vorzeitig entfernt worden. Oder war’s der Wind?

Jedenfalls darum ging es. Die Kirchlichen befürchteten, unter dem falschen Markenzeichen vereinnahmt zu werden. „Die Bombe ist böse“, dabei sollte es bleiben. Die Bombe aus Pappmaché war auch böse, aber aus anderen Gründen. Ein „Ja, aber“ musste angehängt werden.

Dann gab die Marschleitung ihren Beschluss bekannt: „Bombe wieder einwickeln!“ So und nicht anders war es während der Marschvorbereitungen abgesprochen worden. Man einigte sich darauf, dass die Enthüllung nicht erst am Zielort, sondern schon einen Tag vorher erfolgen sollte. Wohl in der Hoffnung, dann weit genug von Hamburg entfernt zu sein. Und das Böse konnte wieder sein, was es immer gewesen ist.

Am Ostermorgen, wir hatten in einem Jugendheim übernachtet, schenkte ich Cornelia ein Marzipanei. Sie gab mir viele Blicke. Ganz nah ging sie neben mir, nicht nur wegen des lädierten Fußes. Ich spürte ihren hübschen Blick überall, auch wo er gar nicht hinkam.

Aber allen Gardinenblicken, allem Misstrauen der Dorfbewohner zum Trotz wurden wir aufgemuntert. Dafür sorgten schon einige Leute der Freigeistigen Jugend. Sie waren vorausgefahren, hatten am Ortseingang oder am Feldweg Tapetentische mit belegten Broten und warmen Getränken aufgestellt.

Schon beim nächsten Heidedorf empfing uns die Skifflegroup der Freigeistigen mit ihren Liedern. Cornelia und ich klatschten begeistert: Denn Musik war verboten! Sie passe nicht zu dem ernsten Anlass, hatte die Marschleitung entschieden.

Auch andere Ostermarschierer ließen sich von der Skifflegroup kräftig aufheitern. Da entschied die Marschleitung doch und auf der Stelle: Aufhebung des Musikverbots! Weiter ging’s. Aber nicht lange. Jemand kam angerannt und verlangte, die Amimusik durch eine Schalmeienkapelle zu ersetzen. Dem Einwand konnte nicht stattgegeben werden. Es waren keine Schalmeien vorhanden.

Zur Begrüßung beim Einzug in den Ort Schneverdingen läuteten die Kirchenglocken. Mutter, Tante Gela und andere klatschten. Die Freigeistige Jugend pfiff den Pastor aus. Der nächste Eklat war da. Wieder Marschunterbrechung. Fußbehandlung und Sondersitzung im Kirchengeläut. Man konnte sich einigen.

Endlich Ostermontag. Wir hatten den Raketenübungsplatz Bergen-Hohne in der Lüneburger Heide erreicht. Cornelia war erleichtert, öffnete die Schnürsenkel ihrer Wanderstiefel und sagte nichts mehr. Kurz darauf wurde das Diskutierverbot aufgehoben.

Mit uns waren noch Gruppen aus Braunschweig, Bremen, Göttingen und Hannover dabei. Achthundert Leute insgesamt. Die Honest-John-Atomraketen konnte ich nicht entdecken. Sie seien vor uns in Sicherheit gebracht worden, hieß es.

Mutter sah jung und kämpferisch aus, ihre feuchten Locken hatten sich über ihrem Gesicht entrollt. „Siehst du!“, sagte sie und legte beide Arme um mich. „Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal.“

BERND HANS MARTENS, 58, hat lange als Ingenieur am Fortschritt gebaut. Jüngste Veröffentlichung: „Die Heringsbraut“, Rospo-Verlag, Hamburg 1999, 184 Seiten, Restexemplare über den Autor per Mail unter bernd.hans.martens@gmx.net für zehn Euro Seine Cousine Cornelia, inzwischen mit ein paar Silbersträhnen im Pferdeschwanz, nimmt noch heute gern an Friedensdemos teil