„Wir feiern zusammen rein“

Der gut Gekleidete, die beiden Professoren und die Dame von Welt. Alle sind begeistert über das Treffen mit zwei Russen im Café. Denn schließlich wohnen alle im gemeinsamen Haus Europa – und unsere Führer haben fast am gleichen Tag Geburtstag

von NATALIA HANTKE

Ab 25 widmet man sich, wenn man nicht gerade BWL oder Jura studiert hat, den kreativen Projekten – von der Gründung eines gemeinnützigen Vereins zur Integration von Ausländern über eine Start-up-Internetfirma bis zur Bildung einer festen Künstler-Arbeitsgruppe. So ziehen auch jetzt Wowa, mein schwuler Malerfreund, und ich unseren Verlag „Die Verlorenen Töchter Russlands“ auf. Wir denken uns seit einiger Zeit Comics aus.

Neulich verabredeten wir uns im „Meeting Point“ des Bahnhofs Friedrichstraße. Nach einer Stunde produktiver Arbeit stieß uns ein widerlicher Geruch in die Nase. Ich tippte auf Käse. Wowa schaute über meine Schultern und empfahl mir dann, mich vorsichtig umzudrehen und die Socken unseres Tischnachbarn, die bestimmt irgendwann mal weiß gewesen waren, anzuschauen. Ihr verlodderter älterer Träger hat sich nebst etlichen Plastiktüten direkt neben uns gesetzt, obwohl alle anderen Tische frei waren. Er brauchte öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung, dachten wir und blieben aus Höflichkeit und sozialer Courage sitzen – bis klar wurde, dass persistente Socken dem schöpferischen Olymp im Wege stehen und gegen die Menschheit gerichtet sind.

Wodka und Bierkultur

Locationwechsel! Entlang des Spreeufers bietet sich eine große Auswahl verschiedener Etablissements an. Wir gehen in eine Kneipe, in der die Menschen noch um diese Uhrzeit auf ihre Laptops starren. Wir finden zwei Plätze an einem Tisch, an dem bereits ein todschick angezogener junger Mann und zwei unauffällige ältere Herren sitzen.

Der gut Gekleidete schaut alle drei Minuten abwechselnd auf seinen teuren Chronometer und auf die weiblichen Pobacken der Bedienung. „Der Mann ist aber stark auf der Suche“, flüstere ich auf Russisch zu Wowa und begrüße den Sucher auf Deutsch. „Fühlen Sie sich hier nicht etwas vereinsamt?“, fragt ihn Wowa und lächelt. „Nein, ich fühle mich ganz entspannt“, antwortet der Mann mit dem starken Akzent eines Zugereisten. „Sie kommen nicht von hier?“ „Ich komme aus Österreich, aber arbeite in Berlin.“ „Wir auch“, grinst Wowa. „Sie sind aber bestimmt keine Österreicher?“, lächelt uns der Mann an. „Nein, wir sind aus Russland“. „Oh, Sie sprechen aber gut Deutsch!“ „Danke, Sie aber auch!“ – Jetzt lachen wir alle.

Der Mann will natürlich wissen, warum wir uns keinen Wodka bestellt haben. Wowa sagt, dass die Bedienung mit dem Kölsch zu schnell gewesen sei. Wir lästern über die bayerische Bierkultur. Es ist mal wieder schön, sich so unpolitisch zu unterhalten, ohne seine Meinung über Tschetschenien oder Wladimir Putin abgeben zu müssen.

Ich erkläre Wowa zu einem gediegenden russischen Maler und er mich daraufhin zu einer berühmten russischen Schriftstellerin. Der Österreicher freut sich. Wir vermuten, dass er im Hotelgeschäft oder in Immobilien tätig ist. Noch erfreuter nimmt er die Ankündigung meines Auftritts auf einer Lesebühne zur Kenntnis. Er will unbedingt kommen. Wowa holt aus der Tasche das Buch „Deutsche Phraseologismen“, das er für mich mitgebracht hat – in altes Zeitungspapier gewickelt. Er reißt den Umschlag ab, um die Adresse der Lesebühne darauf zu schreiben.

Auf der Rückseite der Zeitung sind lauter halb nackte Frauen abgebildet. Ohne zu zögern, sagt Wowa, dass das die Werbung von meiner Lesebühne „Blaue Drachen“ sei. Der Österreicher will wissen, ob ich tatsächlich nackt vorlese, und schaut mich sehr neugierig an. Ich bestätige kaltblütig, dass unsere Lesebühne aus Frauen besteht, die ausschließlich im Evakostüm auftreten. Der Österreicher zeigt auf eine der abgebildeten Blondinen und fragt, ob ich das bin. Lachend versichert Wowa die Identität, mit dem Hinweis, dass ich vor zehn Jahren so ausgesehen hätte, und fügt hinzu, dass er die flotte Brünette sei – nur habe er da noch Kunstbrüste getragen.

Wir lachen und merken, dass die zwei unauffälligen älteren Herren neben uns schon eine ganze Weile interessiert zugehört haben. Nun wollen sie ebenfalls das Foto sehen. Der Österreicher protestiert und will es nicht weiterreichen. „Seien Sie doch nicht so egoistisch“, gackert Wowa, „geben Sie das Bild weiter. An alle in dieser Kneipe. Machen Sie Werbung! Her damit!“ Er zieht dem Österreicher die Zeitungsseite aus der Hand und gibt sie den beiden Herren. Diese fragen mich, wo ich auf dem Foto bin – und wo die spannende Lesung stattfindet.

Das gemeinsame Haus

Während der Österreicher die Seite wieder an sich reißt, stellen sich die beiden Herren als Kulturwissenschaftler und Professoren aus München vor. Der modebewusste Österreicher will sich mit den Kulturprofessoren nicht unterhalten, er verabschiedet sich und sagt, dass er ganz bestimmt zur Lesung kommen wird. Einer der Herren erzählt, dass er drei Jahre lang Unternehmensberater in Moskau gewesen sei und eine besondere Neigung zu Russinnen habe. Als ich diese Plattheit höre, wende ich mich dem anderen Herrn zu, der noch nie in Russland gewesen zu sein scheint. Aufmerksam lausche ich seinem vierzigminütigen Vortrag über das gemeinsame Haus Europa. Am Ende steht ganz fest, dass auch die Russen, vorausgesetzt, sie sind alle so wie Wowa und ich, dem gemeinsamen europäischen Haus doch irgendwie angehören.

Danach fühlen sich beide Professoren etwas erschöpft. Wowa hatte in der letzten Stunde wie ich kaum etwas gesagt und den Vortrag des anderen Professors – über die russische Avantgarde und ihren Einfluss auf die amerikanische Kunst – über sich ergehen lassen. Die älteren Herren bezahlen ihre Rechnung, aus Dankbarkeit fürs Zuhören und wegen der eindeutigen Zugehörigkeit zum gemeinsamen europäischen Haus auch gleich noch unsere mit.

Kaum sind sie weg, stürmen schon die nächsten Gäste auf die frei gewordenen Plätze: zwei Damen mit einem jungen Mann. Eine der Damen ist von Welt: sehr gepflegt und dezent, aber schick gekleidet, mit Dreiwettertaftfrisur und sicherem Auftreten. Der Mann ist bestimmt ihr Sohn und die andere Frau eine ihrer Angestellten. Die Dame hört unser Russisch und fragt, ob es Polnisch sei. Nein, sagen wir, wir kommen aus Sibirien. Was für ein toller Zufall, auch sie wollte schon immer an den Baikalsee – Russland, Taiga, Weite, Breite, russische Lieder und Seele … Oh, ah, sofort ist die ganze Palette im Gespräch! Und dann natürlich die Frage, was wir so in Deutschland überhaupt und so … Ich überlege kurz, ob ich mich als Aldi-Kassiererin oder Sozialhilfeempfängerin vorstellen soll, um allen Klischees gerecht zu werden, aber Wowa ist schneller. Also bin ich doch wieder die russische Schriftstellerin. Ach, so was gibt es jetzt in Berlin?, wundert sich die Dame. „Die Russen schreiben jetzt Deutsch und lesen es selber vor, wie hübsch und zu welchem Thema?“

Wladimir Kaminer? Nein, den Namen hat sie noch nicht gehört. Russendisko – na so was! Im Westen? Nein, doch im Osten. Und dann mit trauriger Stimme: Na ja, wir sind ja jetzt eine Stadt. Ach! Russendisko, Café Burger, Schlangestehen bis zur Volksbühne und nur Russen dort? Nein? Nur Deutsche! Die Zeiten haben sich geändert, wie herrlich, Kasatschok und unser gemeinsames Haus Europa und Russen und was schreiben Sie so – über Lenin? Wie großartig! Und wann lesen Sie Ihre Leningeschichte vor? „Na ja, am 21. April. Lenin hat doch am 22. Geburtstag“, antworte ich. Die Dame von Welt will auf jeden Fall dahin. Wowa fragt, ob sie sich den Termin merken könne.

„Den vergesse ich nicht!“ sagt die Frau – jetzt ganz geheimnisvoll beugt sie sich über den Tisch und macht eine konspirative Miene. „Wissen Sie, unser Führer hat doch auch am 20. April Geburtstag und eurer am 22.!“

„Dann kommen Sie am besten am 21. ins ‚Kaffee Burger‘ – auch wenn Sie noch total verkatert sind, und wir feiern zusammen rein in den Leningeburtstag!“ sagt Wowa. „Auch wenn wir verkatert sind!?“ Die Frau und ihre Begleiter brechen vor Lachen zusammen. „So was sagen die Russen! Das gibt es doch nicht!“ Der Sohn der Weltdame schlägt mit der Hand auf den Tisch und prustet: „Eins zu null für den Iwan.“ Wir fragen nicht nach, warum. Wir verabschieden uns. Wir müssen jetzt weiterkommen. Der Verlag „Die Verlorenen Töchter Russlands“ ruft.