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Archiv-Artikel

Die Matrix in der Buchstabensuppe

Die Ausstellung „p0es1s“ im Kulturforum am Potsdamer Platz sucht nach der Poesie und der Literatur, die das digitale Zeitalter hervorgebracht hat

Nullen und Einsen durchziehen auch die Architektur der „p0es1s“-Ausstellung

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Die Buchstaben rieseln herab wie Schneeflocken. Vokale, Konsonanten, manchmal auch ganze Silben senken sich auf den Betrachter, der sich per Rückprojektion mitten in der Buchstabensuppe wiederfindet. Trifft eine Letter auf das virtuelle Bild des Betrachters, prallt er ab, als wäre er auf einen physischen Widerstand getroffen.

Sammelt man als Teilnehmer genügend Buchstaben auf seinem ausgestreckten Arm, kann man manchmal sogar ganze Wörter oder einen vollständigen Satz auffangen. Denn die Buchstaben, die in der Installation „Text Rain“ von Romy Achituv und Camille Utterback vom Himmel zu fallen scheinen, stammen alle aus Gedichtzeilen, die sich mit dem Körper und der Sprache beschäftigen.

Die Arbeit ist zu sehen bei der Ausstellung „P0es1s“ im Kulturforum am Potsdamer Platz, die sich mit digitaler Literatur und Poesie beschäftigt. Und nicht nur bei „Text Rain“ sind die Buchstaben los. Text kriecht und flattert über Bildschirme und Projektionen, lässt sich drehen und navigieren, flackert oder schreibt sich wieder und wieder neu. Seit sich die Worte von den gedruckten Seiten gelöst haben und auf den Monitor umgesiedelt sind, führen sie ein intensives Eigenleben.

Die „Parole in libertà“, die befreite Sprache, von der der Futurist Marinetti einst träumte, ist wenigstens technische Möglichkeit geworden. Während sich bei den Sprachexperimentatoren zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wie Guillaume Apollinaire oder den Dichtern der Konkreten Poesie in den Fünfzigerjahren die Worte und Sätze nur frei über das Blatt verteilten oder sich zu Mustern und Sprachbildern auf der Buchseite anordneten, ist der Text nun beweglich geworden.

Er kann als Hypertext durch Anklicken und Scrollen durchmessen werden wie ein Raum. Computerprogramme können nach Zufallsprinzip oder nach genau definierten Vorgaben eigene Texte generieren. Und spätestens seit den „Matrix“-Filmen ist auch ins populärkulturelle Bewusstsein die Tatsache eingedrungen, dass unter den digitalen Bildern und Programmen der Computercode wirkt, der selbst eine eigene Ästhetik entfalten kann.

Der Kurator Friedrich Block aus Kassel beschäftigt sich unter dem Markennamen „p0es1s“ bereits seit Anfang der Neunzigerjahre mit digitaler Dichtung. Schon der Name der Ausstellung, die von der Berliner Literaturwerkstatt organisiert wurde, ist eine Mischung aus literarischem Gattungsbegriff (poesis, lateinisch für die Dichtungskunst) und den Nullen und Einsen, aus denen letztlich alle Computerprogramme bestehen. Die Nullen und Einsen durchziehen auch die Ausstellungsarchitektur von „p0es1s“, bei der Block zusammen mit Benjamin Meyer-Krahmer einen Überblick über die verschiedenen Methoden geben möchte, mit denen Autoren und Künstler sich per Computer und Internet an einer digitalen Poesie versucht haben.

Dass das nur selten im Rahmen von Ausstellungen getan wird, liegt – wie auch bei der Netzkunst – an den Vermittlungsproblemen, vor die computerbasierte Arbeiten herkömmliche Museumspräsentationen stellen. Auch bei „p0es1s“ besteht ein guter Teil der Präsentation aus Rechnern, die in einem abgedunkelten Raum installiert worden sind, der an die letzten Szenen aus Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ erinnert. Auf Stilmöbeln stehen Computer, an denen man sich durch digitale Texte klicken kann. Damit entgeht die Ausstellung zwar stimmungsmäßig der Büroatmosphäre, die die Präsentation von digitaler Kunst häufig umgibt. Doch die zum Teil recht schwer zugänglichen Arbeiten brauchen Zeit und wollen oft genug wie ein Buch mit längeren „Einarbeitungsphasen“ erkundet werden.

Wer sich darauf nicht einlassen möchte, findet eine Reihe von Installationen, die einen wesentlich physischeren Zugang zu digitaler Dichtung erlauben. Frank Fietzeks „Bodybuilding“ etwa besteht aus einem Trainingsgerät, an dem man wie im Fitnessstudio die Muskeln anstrengen muss, um „Dialogfragmente erotischen Gehalts“ auf einem Bildschirm erscheinen zu lassen. Bei der Arbeit „Souvenir“ von Heiko Idensen und Stefan Schemat muss sich der Besucher einen Rucksack aufsetzten, der einem beim Rundgang vor dem Museum satellitengesteuert Stimmen und Klänge über Kopfhörer ins Ohr flüstert.

Der „Analog-Digital-Spiegel“ von Andreas Müller-Pohle zerlegt eine Aufnahme vom Ausstellungsraum in digitalen Code, wenn sich der Besucher vor seinem eigenen Abbild hin und her bewegt. Nur als T-Shirt ist eine Arbeit des italienischen Programmierers Jaromil verfügbar: ein winziges Stück Code, das, würde man es in einen Unix-Computer eingeben, zum sofortigen Absturz führen würde.

Die brasilianische Künstlerin Giselle Beiguelman hat große elektronische Anzeigetafeln in São Paulo mit kryptischen Sonderzeichen zugemüllt und versendet ihre Textbilder auch per SMS aufs Handy. Und „GeneralNews“ von Daniela Alina Plewe ersetzt in Texten von englischen und deutschen Nachrichten-Websites einzelne Worte durch alternative Begriffe.

Wer Zugang zur Ausstellung finden will, ist wohl auf den Kurzführer angewiesen, denn an den Exponaten fehlt jegliche Erläuterung. Oder man freut sich einfach ohne jeden Hintergedanken an dem Textmaterial, das oft genug auch bei näherer Betrachtung kryptisch bleibt.

Zum Beispiel an der Kombination von autobiografischen Texten und Computercode, aus denen der Beitrag der Australierin Mez besteht. Und so liest sich das Ergebnis: „[dreamt of ur curling geo_edges city last nite. very peculiar]. [(k)nots in MyBook[read: do.(A)cumen.t]. [i fall + heart.wound easily, sporadically, ma.jest[er]ically 4 all things simulcra].ur blather is my concept meat.undulatingly.“

Bis 4. April, Di., Mi., Fr., Sa., So. 10–18 Uhr, Do. 10–22 Uhr, Kulturforum am Potsdamer Platz, Sonderausstellungshallen, der Katalog kostet 25 €