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Archiv-Artikel

„Ich mag, wenn Sprache Kondensat wird“

Romuald Karmakars neuer Spielfilm „Die Nacht singt ihre Lieder“ schaut einem Paar zu, das den Nullpunkt seiner Beziehung erreicht hat. Ein Gespräch mit dem Regisseur über Kino und Theater, Gewichtsverlagerungen bei der Nahaufnahme und Figuren, die zwar reden, aber sich nichts zu sagen haben

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Karmakar, Ihr Film „Die Nacht singt ihre Lieder“ geht auf ein Stück des Dramatikers Jon Fosse zurück. Anne Ratte-Polle, die weibliche Hauptdarstellerin, hat sich bisher vor allem als Bühnenschauspielerin hervorgetan. Was reizt Sie an der Überblendung von Film und Theater?

Romuald Karmakar: Es gibt unterschiedliche theoretische Ansätze, wie man ein Theaterstück ins Kino übertragen kann. Ich kann am besten dem folgen, was André Bazin in „Was ist Kino“ dargelegt hat: dass man die Vorlage bei der Übertragung auf das Medium Kino nicht verleugnen soll.

Das erste Bild ist weiß, erst allmählich schälen sich Konturen hervor: ein Fenster, eine junge Frau und auch ein Vorhang. Ein Vorhang wie auf dem Theater?

Diese Beobachtung ist richtig. Aber dieser Vorhang ist auch Teil einer Kamerabewegung. Das heißt: Wir fangen im Weiß an, dann kommen die Titel auf uns zu, die Musik setzt ein, wir fahren nach vorne mit der Kamera, wir entdecken einen Vorhang, dieser Vorhang bewegt sich, dahinter erkennen wir die Silhouette einer Frau, diese Frau dreht sich zu uns um, sie kommt in die Wohnung, geht durch das Schlafzimmer, die Kamera fährt vor ihr her, da sagt sie ihre ersten beiden Sätze, im Durchgang zum Wohnzimmer sagt sie ihren dritten Satz. Dabei bindet sie eine zweite Person ein, die wir bis dahin noch nicht gesehen haben. Sie geht weiter durch das Wohnzimmer. Wir erkennen die zweite Hauptfigur, die auf dem Sofa sitzt und liest.

In einer einzigen Einstellung.

Ja. Daran lässt sich gut erkennen, wie ein Kino aussieht, das Elemente aus dem Theater aufnimmt, ohne dass die originäre Quelle verleugnet wird.

Denn so wie Sie diese Einstellung beschreiben, wird deutlich, dass Ihnen die Positionierung der Figuren im Raum, deren Bewegungen und der Bildausschnitt sehr wichtig sind.

Fosses Stück spielt in einem Wohnzimmer; wir haben daraus eine ganze Wohnung gemacht. Das bedeutet, dass bestimmte Tiefen möglich sind und wir dem Kameramann verschiedene Lichtsituationen anbieten können. Denn das Licht im Wohnzimmer ist anders als das im Schlafzimmer, als Multiplikatoren kommen Tag und Nacht hinzu. Vom Schlafzimmer aus gibt es außerdem den Blick auf die Straße, das ist wie eine Rekonkretisierung des Irgendwos aus Fosses Stück. Es ist außerdem eine Grundlage dafür, dass sich die Kamera überhaupt bewegen kann. Und alles ist im Hinblick auf die Kamera entworfen – zum Beispiel, welche Farben die Wände oder die Türen haben. Fred Schuler …

der schon für Cassavetes und Scorsese als Kameramann arbeitete …

Fred und ich haben vier Spielfilme zusammen gemacht, und wir beide sind der Meinung, dass wir klare Dinge so einfach wie möglich erzählen sollten. Daher versuchen wir, bei manchen Szenen so wenig wie möglich zu unterschneiden. Das heißt, wir arrangieren die Szene so, dass ein Schauspieler sie so lange und so intensiv wie möglich trägt.

Ist es, um eine lange Einstellung zu drehen, denn hilfreich, wenn ein Schauspieler Theatererfahrung hat?

Überhaupt nicht. Wenn jemand am Theater lange Szenen durchspielen kann, bedeutet das nicht, dass er das auch im Film kann, und zwar deshalb, weil die Kamera da ist. Jemand wie Frank Giering, der viele Hauptrollen im Film gespielt hat, weiß, wie eine Kamera funktioniert. Anne Ratte-Polle muss es sich erarbeiten.

Können Sie Beispiele dafür nennen?

Wenn ich eine Nahaufnahme drehe, kann es leicht passieren, dass ein Schauspieler bei der Verlagerung seines Gewichtes vom rechten auf das linke Bein aus dem Bild kippt. Oder wenn wir versuchen, eine visuelle Anordnung in die Tiefe zu setzen, zum Beispiel in der Szene, in der Frank Giering am Kinderwagen steht, Anne Ratte-Polle ihn mit Worten hinrichtet und dann ihr Liebhaber von hinten ins Bild reinkommt. Zwischen Frank und Sebastian Schipper gibt es nur einen ganz schmalen Raum, in dem sich Anne bewegen darf, um nicht verdeckt zu werden.

Es gibt in „Die Nacht singt ihre Lieder“ viele Gespräche, bei denen sich die Figuren nicht anschauen. Entweder reden sie aneinander vorbei oder sie sind in einer Linie hintereinander aufgestellt. Hat das etwas damit zu tun, dass Schauspieler auf der Bühne in Richtung Publikum sprechen müssen?

Ja, aber der Hintergrund ist ein anderer. Auf dem Theater – das ist zumindest mein Eindruck – glauben viele Schauspieler, dass man wichtige Dinge nur übertragen kann, wenn man dem Gegenüber direkt ins Gesicht schaut. Beim Kino muss das nicht sein, weil die Kamera das vermittelt.

Wenn das Kino Gespräche oft als Schuss-Gegenschuss-Folge in Szene setzt, markiert Ihr Film eine Abweichung.

Die Filmgrammatik ist reichhaltig; ich vergleiche sie gerne mit der Tastatur eines Klaviers. Die Filmgeschichte zeigt, wie viele Tasten es gibt. Zugleich reduzieren wir uns immer mehr, weil wir nur noch die Tasten hören wollen, die sowieso meistens angeschlagen werden. Zum Kino gehören aber nicht nur Schuss-Gegenschuss und Großaufnahme, nein, zum Kino gehören auch eine Totale, selbst im Innenraum, eine Halbnahe oder eine amerikanische Einstellung, also die Einstellung der amerikanischen Komödie aus den 40er-Jahren. Da ich auch in meinen anderen Filmen mit langen Einstellungen arbeite, habe ich bisweilen den Eindruck, dass die Leute denken, ich hätte keine Lust zu schneiden oder wisse es nicht besser. Sie verstehen nicht, dass es eine ganz bestimmte ästhetische Prämisse ist, die im Weltkino gang und gäbe ist.

Und woher rührt Ihre Vorliebe für geschlossene Räume?

Innenräume tauchen in jedem Spielfilm der Welt auf. Viele Filme, gerade Komödien, funktionieren fast nur in Innenräumen, trotzdem würde man diese Räume nicht unbedingt als eng und begrenzt wahrnehmen. Bei „Die Nacht singt ihre Lieder“ dachte ich: Okay, das ist die Geschichte, fünf Figuren, wenige Drehorte; das wird ein günstiger Film, den ich schnell finanzieren und schnell drehen kann. Wenn es fast unmöglich ist, große Budgets zusammenzubekommen, dann mache ich halt einen Film, der nicht so teuer ist, mit einem Autor, der in über 20 Sprachen übersetzt ist. Dann habe ich vielleicht auch die Chance, den Film ins Ausland zu verkaufen. Eigentlich sind das ideale Produktionsvoraussetzungen.

Das war dann aber nicht so, die Filmförderanstalten haben Ihre Anträge abgelehnt.

Ja, wir haben drei Jahre daran gearbeitet; ich hatte das Projekt nach einem Jahr eigentlich eingestellt, weil es aussichtslos war, es zu finanzieren.

Die Sprache der Figuren wirkt artifiziell, wie verfremdet.

Ist das denn wirklich so?

Es ist weniger der Inhalt der Sätze, der den Verfremdungseffekt bedingt, vielmehr ihre Modulation und die Wiederholungen.

Mir hat kürzlich jemand gesagt, es habe ihn an Zwischentitel in Stummfilmen erinnert. Das fand ich interessant. Mir haben der Aufbau der Sätze und die Dialoge bei Fosse immer sehr gut gefallen. Ich mag es, wenn Sprache Kondensat wird, wenn jemand es schafft, zentrale Dinge des Lebens in einfache Sätze zu übertragen und diese einfachen Sätze aufeinander abzustimmen. Ob das künstlich ist? Das haben wir uns gar nicht gefragt, vielleicht deswegen, weil der Entstehungsprozess eines Filmes selbst so wahnsinnig künstlich ist.

Die Sprache hat den Effekt, dass die Figuren sich nie zur Identifikation anbieten.

Die Geschichte beschreibt ja die Situation eines jungen Paares, das sich in eigener Verantwortung in eine ausweglose Situation manövriert hat. Im klassischen Kino würden die Figuren versuchen, die ausweglose Situation zu überwinden, dabei würden sie zu Helden werden. Und wenn das geschieht, gehen wir als Zuschauer beglückt aus dem Kino heraus. In „Die Nacht singt ihre Lieder“ hingegen beschreiben wir eine ausweglose Situation und Hauptfiguren, die davon hoffnungslos überfordert sind. Damit korreliert die Sprache. Die Figuren reden zwar, aber sie können nicht ausdrücken, was sie sagen wollen. Und in dem Maße, wie sie die Sätze wiederholen, erfahren wir als Zuschauer immer mehr über die Figuren und die Situation, in der sie sich befinden. Die junge Frau traut sich nicht zu sagen: „Ich verlasse dich jetzt.“ Sie sagt stattdessen: „Ich möchte ins Bett gehen“ – und zwar zehn Mal, um ihren Mann zu nerven. Es kommt dabei zur Deckungsgleichheit zwischen der schlimmen Situation, die beschrieben wird, und der Situation, die der Zuschauer als Zumutung erlebt.

Das genau ist der heikle Punkt …

Die meisten Leute wollen etwas mitkriegen, ohne davon etwas abzukriegen. Wie in einem Panoptikum schaut man sich an, wie das ist in Südafrika oder im britischen Arbeitermilieu. Es werden Angebote gemacht, etwa in der Art, dass es mit einem selber am Ende bloß nichts zu tun hat. Aber es muss doch auch etwas anderes geben! Warum soll der Schmerz, der in der Liebesbeziehung steckt, nicht auf die Zuschauer übertragen werden?

Es gibt dazu eine Gegenthese: Regisseure, die so vorgehen, maßen sich etwas an. Solche Vorwürfe werden zum Beispiel gegen Michael Haneke oder Lars von Trier erhoben. Ist da etwas dran?

Was ich mache, hat nie den Anspruch der Ausschließlichkeit. Aber ich muss für diese Art von Kino kämpfen, auch wenn andere sich dadurch gestört fühlen. Wenn einer heute zum Fernsehen geht und sagt: „Ich möchte einen Film machen im Stil von Dreyers ‚Gertrude‘ “, wird er doch rausgeschmissen. Wir können uns aber in Deutschland nicht gegen die unterschiedlichen Sprachen des Weltkinos sperren. Es ist fatal zu sagen: „Wir wollen nur noch frisches Opa-Kino haben, weil das erfolgreich ist.“ Wenn wir zwei Arme haben, sagen wir doch auch nicht, dass einer reicht.