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Archiv-Artikel

Schmutzige Schneebälle

Nächste Woche startet die europäische Raumfahrtmission Rosetta. Die fünf Milliarden Kilometer lange Reise zu dem Kometen Tschurjumow-Gerasimenko wird mehr als zehn Jahre dauern

Filmreif wirkt dagegen das Szenario der Nasa für ihre nächste Kometenmission

VON KENO VERSECK

Der legendäre Astronom und Altmeister der Kometenforschung Fred Whipple wird am Jahr 2004 große Freude haben. „Dr. Komet“ darf in seinem 98. Lebensjahr gleich drei spektakuläre Raumfahrtmissionen zu jenen Himmelskörpern miterleben, für die er 1950 eine kurze und treffende Definition prägte: „schmutzige Schneebälle“.

Anfang Januar flog die US-Sonde Stardust am Kometen 81 P/Wild 2 vorbei, sammelte Partikel aus seinem Schweif ein, die sie zur Erde zurückbringen wird, und machte die bisher besten Aufnahmen von einem Kometen überhaupt. Nächste Woche, am Donnerstag, 8.36 Uhr, startet die europäische Rosetta-Mission zum Kometen 67 P/Tschurjumow-Gerasimenko. Im Dezember schließlich will die US-Raumfahrtagentur Nasa ihre Sonde Deep Impact ins All schießen. Sie hat ein mit Messgeräten bestücktes Kupferprojektil an Bord, das im Juli 2005 auf dem Kometen 9 P/Tempel 1 abgefeuert werden und in sein Inneres vordringen soll.

Die Missionen häufen sich aus guten Grund: Kometen gehören zu den am wenigsten erforschten Himmelskörpern des Sonnensystems. Die „schmutzigen Schneebälle“, so die Theorie, bestehen zu einem großen Teil aus Wassereis, daneben aus gefrorenen Gasen und Kohlenwasserstoffverbindungen wie Methan oder Ammoniak. Eingebettet in dieses Eisgemisch sind Silikat-Staub und Gesteinsbrocken.

Kommen Kometen auf ihren meist elliptischen Bahnen in Sonnennähe, gasen sie aus. Die Gasatome und -moleküle werden von geladenen Teilchen des Sonnenwindes angeregt. Dadurch entsteht der leuchtende Schweif.

Kometen sind tiefgefrorene Überbleibsel aus der Anfangszeit des Sonnensystems. Der Theorie zufolge klumpten damals aus einer Staub-, Gesteins- und Eispartikelscheibe um die junge Sonne die Planeten zusammen. Gewissermaßen als „Krümel“ dieser Scheibe blieben die Kometen übrig. Vor allem das macht sie für die Forschung interessant.

„Kometen sind kleine Zeitkapseln, die uns sagen, wie es vor viereinhalb Milliarden Jahren war“, so der britische Wissenschaftler Simon Green, der am Stardust-Projekt mitarbeitet. Möglicherweise, so spekulieren einige Forscher, brachten Kometen das Wasser oder zumindestens einen Teil davon auf die Erde. Auch organische Verbindungen wie Kohlenwasserstoffe, die wichtig sind für die Bildung von Aminosäuren, die Grundbausteine aller bekannten Lebensformen, könnten mit ihnen auf die Erde gelangt sein.

Zwar gab es in den vergangenen zwei Jahrzehnten einige Kometenmissionen. So flogen 1986 mehrere Raumsonden zum bekanntesten aller Schweifsterne, dem Halleyschen Kometen, der auf seiner elliptischen Bahn alle 76 Jahre in das innere Sonnensystem vordringt. Dennoch wissen Forscher nur wenig Genaues über die Bildung, den Aufbau und die Zusammensetzung von Kometen. Das sollen die diesjährigen Kometenmissionen nun endlich ändern.

Den Anfang machte die US-Sonde Stardust, die seit Februar 1999 unterwegs ist. Am 2. Januar flog sie in einem Abstand von nur 240 Kilometern am Kometen Wild 2 vorbei, einem 5,4 Kilometer großen Eis- und Gesteinsbrocken, der die Sonne alle sechseinhalb Jahre umkreist. Stardust sammelte im Vorbeiflug Staubteilchen aus dem Kometenschweif ein – ein gewagtes, zuvor noch nie erprobtes Manöver. Dazu entfaltete die Sonde einen tennisschlägergroßen Staubkollektor aus einem glasartigen High-Tech-Material namens Aerogel, in dem sich die winzigen Staubteilchen verfangen sollten.

Bis zu 20 Gramm Kometenstaub hoffen die Forscher gesammelt zu haben. Im Januar 2006 soll eine Kapsel mit dem Staubkollektor zur Erde zurückkehren und auf der US-Luftwaffenbasis im Bundesstaat Utah landen.

Auch das ein gewagtes Vorhaben: Bisher ist es überhaupt nur einmal gelungen, mit einer unbemannten Sonde außerirdisches Material zur Erde zu bringen – 1976 vom Mond, wo die sowjetische Sonde Luna 24 Staub und Gestein gesammelt hatte.

Bis zum Januar 2006 brauchen Kometenforscher jedoch nicht auf Messergebnisse zu warten. Ein Stardust-Bordlabor soll schon während der Rückreise vorläufige Analysen über die Zusammensetzung von Wild 2 an die Erde funken.

Auch die Aufnahmen des Kometen lieferten den Stardust-Wissenschaftlern bereits einige Anhaltspunkte. Wild 2 besteht offenbar im Wesentlichen aus Wasser-, Kohlenmonoxid- und Methanol-Eis sowie aus sehr feinem Staub.

Überrascht zeigten sich die Forscher über die relativ solide, feste Struktur von Wild 2 – sie waren davon ausgegangen, dass der Komet sehr viel poröser sein würde. „Ein Astronaut könnte auf dem Kometen spazieren gehen, ohne dass der Boden einsackt“, so der Stardust-Chefwissenschaftler Donald Brownlee.

Um Größenordnungen spektakulärer hat die europäische Raumfahrtagentur ESA ihre Rosetta-Kometenmission angelegt, die letztes Jahr aufgrund des Ariane-5-Raketenunglücks verschoben werden musste. Läuft alles nach Plan, wird Rosetta nächste Woche auf ihre rund 5 Milliarden Kilometer lange Reise zu dem etwa 5 Kilometer großen Kometen Tschurjumow-Gerasimenko gehen.

Nach einer zehneinhalbjährigen Reise soll Rosetta den Kometen im Sommer 2014 erreichen und ihn in einem Abstand von nur wenigen Kilometern umkreisen. Einige Wochen später soll dann das spektakulärste Manöver der Mission stattfinden: die Landung auf dem Kometen.

Das kleine Landegerät wird auf der Kometenoberfläche unter anderem Bohrungen vornehmen und das Krustenmaterial des Kometen analysieren. Aufschluss über die Beschaffenheit seines Kerns sollen Radiosignale geben, die das Landegerät durch den Kometenkern sendet und die vom Rosetta-Orbiter aufgefangen werden.

Rosetta wird den Kometen im Sommer 2014 kurz vor seinem sonnennähesten Bahnpunkt treffen und mit einer Vielzahl von Messinstrumenten insgesamt 18 Monate lang seine aktive Phase beobachten können, also den Ausstoß von Gasen und Staub und die Schweifbildung.

„Das wird unser Verständnis von Kometen revolutionieren“, schwärmt der Wissenschaftler Gerhard Schwehm. „Wir werden wunderbare Entdeckungen über die einfachsten Bausteine unseres Sonnensystems machen.“

Filmreif wirkt dagegen das Szenario der Nasa für ihre nächste Kometenmission: Deep Impact heißt das Vorhaben, das im Dezember beginnen soll. Dann wird eine Sonde ihre sechsmonatige Reise zum Kometen Tempel 1 antreten, einem 3 bis 5 Kilometer großen Eis- und Gesteinsbrocken, der die Sonne alle fünfeinhalb Jahre umrundet.

Nach ihrer Ankunft am Kometen im Juli 2005 wird die Sonde ein 370 Kilogramm schweres Kupferprojektil auf den Kometen abschießen. Wie meistens auch bei dieser Mission unverzichtbar: die Nasa-eigene Mischung aus PR, Patriotismus und Action. Einschlagstermin ist der 4. Juli – der amerikanische Nationalfeiertag Independence Day.

Das Projektil soll einen Krater in den Kometen schlagen, der mindestens so groß ist wie ein mehrstöckiges Haus, aber je nach Beschaffenheit von Tempel 1 auch die Ausmaße eine Fußballstadions erreichen könnte. Ist der Komet besonders porös, könnte das Projektil sogar durch ihn hindurchschießen. Der Sinn der Kometenattacke: Wissenschaftler hoffen, dass seine inneren Schichten nach dem Einschlag frei liegen und studiert werden können.

Das mit Kameras ausgerüstete Geschoss soll nur einen Tag lang überleben und Daten senden, die Muttersonde hingegen wird Tempel 1 mehrere Jahre lang begleiten und ihn erforschen. Nebenbei geht es, wie die Projektwissenschaftler zugeben, auch um „planetarische Verteidigung“, den Schutz der Erde vor Einschlägen von Asteroiden oder Kometen – eine Gefahr, die in den letzten Jahren von Forschern verstärkt diskutiert wird.

Zwar sei Deep Impact in erster Linie ein Kometen-Forschungsprojekt, so der Chefwissenschaftler der Mission, Michael A’Hearn, aber: „Wir werden auch wichtige Informationen über die physischen Eigenschaften des Kometen erhalten, was wiederum unabdingbar ist, um Bedrohungen abzuwenden.“

Ob Fred Whipple noch das Ende aller dieser Missionen erleben wird oder nicht – der 97-jährige „Dr. Komet“ kann längst stolz sein auf sein Lebenswerk. Nicht nur Whipples Theorie von den „schmutzigen Schneebällen“ machte unter Wissenschaftlern eine grandiose Karriere. Weil Whipple schon vor Jahrzehnten eine Abschirmtechnik für Sonden vorgeschlagen hatte, die nahe an Kometen vorüberfliegen, gab die Nasa den Schutzschilden ihrer Stardust-Sonde den Namen „Whipple-Schirme“. Ohne die hätte Stardust den Flug wohl kaum überlebt: Bei ihrem Flug durch den Schweif von Wild 2 durchschlugen Staubteilchen mit immerhin sechs Kilometern pro Sekunde die äußere Wand des Whipple-Schutzschildes.