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Archiv-Artikel

Gestern Hungerstreik. Heute Prüfung.

Was bleibt von den Studentenprotesten? In dieser Woche gingen die Vorlesungen an der Humboldt-Uni zu Ende. Ein kleiner Teil der Studenten hat den Protest professionalisiert, der Rest kauft sich vielleicht die CD mit den besten Streik-Videos

„Wenn die Studiengebühren kommen, kocht der Protest wieder hoch“

VON BERNHARD HÜBNER

Fünf Studenten in rosa Kostümen rennen vorbei. Sie fuchteln herum mit Papierpuscheln und schreien: „Wir sind rosa und ihr nicht.“ Diese schlechte Karikatur einer Cheerleader-Truppe ist eine Aktionsgruppe. Auf der Bank neben dem Haupteingang der Humboldt-Uni hebt ein Student kurz seinen Kopf. Aber als der rosa Trupp vorbeigezogen ist, liest er weiter in seinem Buch.

Auch die anderen Studenten, die auf auf dem Vorplatz der Humboldt-Univerität herumlungern, ignorieren den Protest. Der Großteil der Studenten studiert schon lange weiter, als wäre nie etwas geschehen. Seit dieser Woche sind die Vorlesungen vorbei. Der Streik ist es schon lange.

Die Aktionstage, auf denen 6.000 Studenten zusammenkamen, sind erst ein paar Wochen her. Aber doch scheint es eine andere Zeit gewesen zu sein. Heute blockieren gerade einmal sechzig Leute den Verkehr Unter den Linden. Die fünf in Rosa, die FU-Fighters und die anderen üblichen Verdächtigen. Nicht mehr die Durchschnittsstudenten.

Die Angst, dass zu viele Kurse ausfallen, hat sie von der Straße zurück in die Vorlesungssäle, Seminarräume und Bibliotheken getrieben. Sie wollten kein Semester, an dessen Ende sie nichts in der Hand haben. Deshalb bereiten sie sich jetzt auf Prüfungen vor.

„Nach Weihnachten waren alle wie umgeschaltet“, erinnert sich Thomas Hinsberger, 23. „Da war die Uni für viele weit weg und das schlechte Gewissen kam.“ David Israel, 24, schiebt es auf die Uni: „Das System hat angefangen Druck zu machen und den Leuten eingebläut, dass man sich heute eine Verzögerung beim Studium nicht leisten kann.“ Die beiden möchten mit Vornamen angesprochen werden. Thomas trägt ein kariertes Hemd und eine Baseballmütze. David, kurze Haare, Brille, ist hager. Sie sehen nicht aus, wie sich die Öffentlichkeit Streikaktivisten seit den Zeiten von Rudi Dutschke vorstellt. Nicht alternativ, nicht mit wilden Locken. Dabei waren David und Thomas, die Studenten der Klassischen Archäologie, von Anfang an dabei. Schon bevor es richtig losging.

Im Sommersemester, als noch niemand von Streik redete, besetzten sie aus Protest ihr Institut. Als im Dezember Studenten zum ersten Mal die SPD-Zentrale stürmten, kämpften sich David und Thomas bis auf den Balkon vor und blieben, bis sie die Polizei herunterholte. Im Januar merkten sie, dass die Proteste abflauten. Und beschlossen, radikal dagegenzuhalten: Sie setzten sich vor das Büro des HU-Präsidenten und aßen nichts mehr – sechzehn Tage lang.

Sagen sie jedenfalls: „Der Hungerstreik war das einzige Mittel, das im Rahmen des friedlichen Protests noch nicht angewandt wurde“, sagt Thomas. „Wir wollten der Bewegung einen neuen Impuls geben. Aber Fehlanzeige.“ Die Unileitung machte sich Sorgen. Präsident Jürgen Mlynek höchstselbst redete mit den Hungernden. Eine halbe Stunde lang. „Er hat auf seinem Standpunkt beharrt“, regt sich Thomas auf. Sie beendeten ihr Fasten, als die HU ein paar Professuren weniger kürzte als befürchtet. Mehr war nicht drin.

Seit dieser Woche sind die Vorlesungen an der HU vorbei. Der Streik ist es schon lange

„Was jetzt noch an Protesten läuft, ist nicht mehr sinnvoll“, findet David. Die beiden protestieren nicht mehr. Nächste Woche sind Prüfungen. Am Anfang hatte David in Kauf genommen, ein ganzes Semester zu verlieren. Mittlerweile meint er: „Wenn ich jetzt keine Scheine mache, dann würde ich mir selbst ins Knie schießen.“ Die Dozenten seien flexibel, meint er. Sie können alles, was sie versäumt haben, nacharbeiten. „Jetzt wird es für eine ganze Zeit ruhig“, prophezeit David , „aber wenn Studiengebühren kommen, dann wird der Protest wieder hochkochen.“

Rainer Wahls, Student, vermutlich Anfang dreißig, ist einer von denen, die noch nicht aufgehört haben, zu protestieren. Er spricht im Kinosaal der Humboldt-Uni. Nicht für kleinere Seminare, sondern für „den generellen Umbau der Gesellschaft“. Je mehr der Streik nachließ, desto häufiger hörte man Leute wie Rainer reden. Aktivisten, die immer professioneller werden. Auf der letzten Vollversammlung ist er einer der Hauptredner. „Das Sozialbündnis muss ein politischer Faktor werden“, spricht er. Er verliest leise eine Erklärung. Die Studenten im Saal, nicht mehr als 200, tuscheln. Fast die Hälfte der Plätze ist frei geblieben. Es ist ein bisschen wie in einer mäßigen Soziologie-Vorlesung. Nur Fetzen schaffen es in die hinteren Reihen. „… die politische Klasse … wir Intellektuelle … werden Protest fortsetzen.“ Die Erklärung wird verabschiedet. Irgendwie ist das nur noch Nebensache.

Vor dem Saal wird das Streik-T-Shirt verkauft. Und die CD-ROM mit den besten Streik-Videos. In der Vollversammlung läuft der Streikfilm mit Bildern aus dem vorigen Jahr: zehntausende Menschen für die Sache auf der Straße, große Besetzungsaktionen. Ein nostalgisches Wir-waren-dabei-Gefühl legt sich über den Saal. Die große Wut des Herbstes ist nicht vergessen. Aber sie glimmt nicht mehr.