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Archiv-Artikel

In der Ausweichbewegung

Einerseits nicht so gern verlieren wollen, andererseits aber auch nicht unbedingt gewinnen müssen: „Damals. Ein Leben in Deutschland 1929–2003“, die Lebenserinnerungen des im Sommer des vergangenen Jahres überraschend verstorbenen Kritikers, Essayisten und Schriftstellers Reinhard Baumgart

VON GERRIT BARTELS

Ende der Sechzigerjahre ließ sich die Zukunft des Suhrkamp-Verlags noch entspannt zwischen einem Tennisspiel und der TV-Übertragung der ersten Mondlandung besprechen. Es war bei Walsers in Nußdorf am Bodensee, kurz nachdem die Herren sich beim Tennis verausgabt hatten, als Siegfried Unseld seinen Freunden Reinhard Baumgart und Martin Walser anbot, mit ihm zusammen den Suhrkamp-Verlag „durch die schwierigen Zeiten“ zu führen: „Wir drei als Trio könnten es schaffen.“ So schildert es der im Sommer vergangenen Jahres überraschend verstorbene Kritiker und Schriftsteller Reinhard Baumgart in seinem Erinnerungsbuch „Damals. Ein Leben in Deutschland 1929–2003“, ohne jemals von der Ernsthaftigkeit dieses Angebots vollständig überzeugt gewesen oder darauf eingegangen zu sein: „Ein Triumvirat als Utopie, doch Siegfried Unseld schien das ernst zu meinen und hörte nicht auf davon zu reden, zu schwärmen, während wir wieder und wieder die taumelnden Schritte der Pioniere auf der Mondoberfläche anstarrten.“

Liest sich diese kleine Geschichte eher wie eine Anekdote, die etwa in einer Walser-Biografie kaum eine Fußnote abgeben würde, so hat sie für Baumgart fast leitmotivischen Charakter. Zumal er beim Tennisspiel mit den verbissen kämpfenden Walser und Unseld wieder merkt, wie es ihm nicht gelingt „ein altes Dilemma zu überwinden: nicht verlieren zu wollen, einerseits, aber auch nicht unbedingt gewinnen zu müssen, andererseits“. Reinhard Baumgart war ein Mann mit vielen Möglichkeiten und Talenten, der aber nicht karriereristisch dachte. Sondern der es vorzog, auf Um- und Abwegen zu wandeln; der Brüche schätzte, zufällige, überraschende, bewusst herbeigeführte.

Seine Erinnerungen sind für ihn deshalb auch ein Versuch, „ein Rätsel nachzuerzählen, meine stete und störrische Verweigerung jedweder zielbewussten Lebensplanung“. 1929 als Sohn eines aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Arztes und der höheren Tochter eines Gutsherrn in Lissa bei Breslau geboren, verschlägt es ihn am Ende des Krieges nach vielen Irrwegen in die bayrische Provinz. Er beginnt ein Volontariat bei einem kleinen Münchener Kunstverlag, studiert in Freiburg und München Literatur und Geschichte, in acht Semestern, „eine atemlos arbeitsreiche und doch glücklich ausgekostete Zeit“, und arbeitet als deutscher Lektor an der Universität in Manchester.

Es folgt ein Intermezzo als Chemiestudent, bevor er beim Piper-Verlag eine Ausbildung beginnt. Hier betreut er Ingeborg Bachmann, lehnt Martin Walser ab, versucht Wolfgang Koeppen zu verpflichten (beide landen bei Suhrkamp), gewinnt Marcel Reich-Ranicki als Autor. Er beginnt selbst zu schreiben, Literaturkritiken für den Spiegel, zwei Romane, an einem dritten scheitert er. Später wird er Essayist, Vortragsreisender, Theaterkritiker und auch Filmemacher, der etwa Goethes „Wahlverwandtschaften“ verfilmt.

Es fällt schwer, an dieser Stelle Baumgarts Lebensweg stringent nachzuzeichnen und seinen vielen Berufen und Berufungen nur ansatzweise gerecht zu werden. Und man fragt sich, ob er selbst denn dem großen Rätsel seiner Unstetheit auf den Grund gekommen ist – oft springt er verwundert von der ersten in die dritte Person, bezeichnet sich mal als „der junge Mann“, mal als „der Autor“, der schon nach einem gelungenen und gefeierten ersten Roman, einem Gegenwartsroman, eine „Ausweichbewegung“ mit dem zweiten macht, einem Vergangenheitsbewältigungsbuch. Oder er räsoniert darüber, am liebsten ein Kapitel mit dem Satz „Er flüchtet“ zu beginnen.

Baumgart vermutet seine Unlust an Machtgewinn und -ausübung, seine Unfähigkeit, „Einflußkanäle aufzubauen“, in seinen frühesten Prägungen, dem Großwerden in der Nazizeit. Er spricht von dem Druck der großen Zeit, der ihm sein eigenes, jugendliches Leben nahm, von „Verlusterfahrungen“. Und er artikuliert spürbar Widerstände gegen Menschen, die richten „aus der Perspektive einer späteren Zeit“. Er wird Mitglied des Jungvolks, „stolz auf die Uniform, die eigene und kollektive, braununiformiert wie der Vater“, und später der Nachrichten-HJ. Und er ist ein „innerer Emigrant“, der sich in Nischen flüchtet, in die Astronomie, die Chemie, die Literatur: „Lesen half immer.“ Dabei und nicht dabei aber ist insbesondere der Vater, der 1934 in die SA eintritt und den Baumgart so charakterisiert: „Er war für seine Bewegung, aber nicht dafür, also nicht ganz anwesend in ihr und doch von früh an dabei. Geistesabwesend bei vollem Bewußtsein, das heißt mitschuldig und unschuldig auch.“

Baumgart schreibt das alles differenziert auf, geht bewusst die Gefahr ein, sich bei all diesen Differenzierungen zu verheddern oder von den Opferdeutschen dieser Tage vereinnahmt zu werden, und bezeichnet die Nazizeit als „rasend beschleunigte Geschichte“, die nicht so einfach erfahrbar war und verarbeitet werden konnte und die die Mehrzahl der Deutschen nicht gerade „hellwach und zurechnungsfähig“ erlebt haben dürfte. Heikel ist das manchmal, auch ehrlich, einer „subjektiven Wahrheit“ geschuldet. Er selbst aber ist immunisiert gegen zu welchen Zweck auch immer gezeigte Fotos von Leichen und Leichenhaufen, nachdem er in Dresden die alliierten Bombenangriffe glücklich überlebt, anderntags die Leichenstapel gesehen und dann fast gar nichts gefühlt hatte: „Nichts, außer ein leeres Grauen, (…) ein Grauen, das sich nicht vergessen, aber auch für nichts und gegen nichts benutzen ließ.“

Ob ihn all das von einem Karriere-Masterplan abgehalten hat? Möglicherweise hatte Jürgen Habermas Recht, als er seinen Freund, der es gerade abgelehnt hatte, Feuilletonchef der Zeit zu werden, mit den später zum Bruch führenden Worten abmahnte: „Du benimmst dich wie eine von allen Zwängen des Erwerbslebens freigestellte Person.“ In der Tat ist es die in den Fünfzigerjahren geschlossene und bis zu seinem Tod haltende Ehe mit der aus einer Hamburger Reederfamilie stammenden Hildegard Bruns, die Baumgart einen stabilen finanziellen Hintergrund verschafft, ihn und seine Familie aber auch abhängig macht „von Wohlwollen und Großzügigkeit eines Vaters und Schwiegervaters.“

Doch war Baumgart kein versnobter Zeitvertreiber, der sich langweilte und dauernd neue Anregungen brauchte; sondern ein gewissenhafter Autor und Essayist, neben Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser einer der maßgeblichen Literatur- und Theaterkritiker der Bundesrepublik und auch danach. Der jedoch Wiederholungen und Verlängerungen ausweichen wollte, der mit jeder einsetzenden Routine den Spaß an der Arbeit verlor. Und der sich in seinen Erinnerungen genauso kokett wie bescheiden keine „klar fixierte Begabung“ zugesteht oder seinen Essay „Lob auf den Dilettantismus“ durchaus als Selbstauskunft verstehen möchte.

Vielleicht bewahrten ihn solche Einsichten davor, als Eiferer von der Literaturkanzel aus aufzutreten und Daumen-rauf-Daumen-runter-Zeugnisse zu verteilen. Baumgart war lieber zeitlebens Entdecker, der schon rein biografisch oft genug Literaturnachhilfestunden nehmen musste und der dann Anfang der Neunzigerjahre als Professor an der Technischen Universität in Berlin ein zweites Mal Flaubert oder Proust liest, Bachmann, Johnson oder den „Zauberberg“, „um wieder zu erfahren, wie unauslesbar, unerschöpflich neue Fragen stellend, neue Einsichten liefernd diese Werke waren“.

Baumgart schätzte die Ambivalenz in der Kritik, das Sowohl-als-auch. Er bevorzugte das vorsichtige, gerechte Abwägen, sein Ton war moderat, manchmal melancholisch, und er bewahrte sich eine Offenheit für jede Art von literarischer Strömung: skeptisch allen Totenscheinen gegenüber, die der Literatur ausgestellt wurden, etwa in den späten Sechziger- oder den frühen Neunzigerjahren. Überzeugt davon, dass „die Literatur immer der Widerstand des Besonderen gegen das Allgemeine“ war. Und eitel genug, das eigene Leben für so repräsentativ zu halten, „stellvertretend für viele aus einer allmählich verstummenden, wegsterbenden deutschen Generation“, um mit diesem Buch ein schönes, klarsichtiges und bewegendes literarisches Zeugnis ablegen zu können.

Reinhard Baumgart: „Damals. Ein Leben in Deutschland 1929–2003“. Hanser, München 2004, 384 S., 24,90 €