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: Das Kallmann-Syndrom, Krawall-Touristen und Demo-Tipps

„Geh doch zurück nach Stuttgart/Marienfelde/Göttingen, du Eumel!“

Habe den vorgestrigen Tag mit einem dicken roten Filzmarker-Punkt in meinem Kalender bereichert, direkt neben Mi 16. Nicht, weil die U-Bahn mal pünktlich kam, sondern weil vorgestern der Tag unglaublichen Zufälle war. Es begann damit, dass ich zum Frühstück die dritte Platte der Jackson 5 auflegte, und während Michael Jackson, damals noch geprügelte zwölf, mit seiner kornklaren Kinderstimme „How funky is your chicken“ piepte, dachte ich darüber nach, warum sich seine Stimme mit den Jahren kaum verändert haben mag. Wenn mal aus irgendeiner Jahrmarkts-Bumsbude ein aktueller Michael-Jackson-Song tönt, merkt man: Die Stimme ist dieselbe.

Höchst interessant, dachte ich, und setzte mich, über Jackson sinnierend, im Eiszeit-Kino in die Pressevorführung eines Films über Jimmy Scott, einen Jazz-Vocalisten. Am Anfang des Films sah man ein paar Musiker auf einer Konzertbühne in Tokio, die einen Swing intonierten, dann kroch plötzlich eine uralte japanische Dame im Herrensuit dazwischen und begann, „Love is always here“ oder etwas Ahnliches zu singen. Und die uralte japanische Dame war Jimmy Scott.

Der ist nämlich ein 80-jähriger Amerikaner aus Cleveland, Ohio, mit dem so genannten Kallmann-Syndrom, das bedeutet, dass sich bei ihm keine Sexualhormone ausgebildet haben und er darum mit zwölf aufgehört hat, seinen Körper zu verändern. Und jetzt singt er immer noch mit derselben schönen, hohen Mädchenstimme und sieht aus wie eine uralte Dame. Natürlich überschlug sich mein mineralienarmes Gehirn fast bei der Transferleistung: Michael Jackson, folgerte ich exakt wissenschaftlich, hat auch das Kallmann-Syndrom! Und singt darum wie ein Baby mit schmutziger Fantasie und sieht ebenso aus! Ich beschloss, sofort Neverland anzumailen und, nur wenn gewünscht, eine Hormon-Therapie mit Testosteron vorzuschlagen. Man weiß ja nicht, ob der fiese Jackson-Dad nicht schon selbst auf diese Diagnose gekommen ist und seinen erfolgreichsten Sohn extra short on testosteron hält, damit das Engelsstimmchen noch weitere Millionen einpiept. Aber ich werde das trotzdem tun.

Später gab es einen weiteren komischen Zufall, der begann damit, dass sich ein Freund bei mir telefonisch zum 1.-Mai-Gucken einlud, denn von meinem Fenster aus hat man einen hervorragenden Blick zuerst auf die kahlen Fontanellen der friedlichen Nachmittags-Papis und später auf die bekloppten Krawall-Touristen. Man kann den ganzen Tag rausspannen, Bier trinken und abends die den Kapitalismus-unbedingt-in-Berlins-Sozialfallbezirk-Nummer-eins-bekämpfen-wollenden Idioten anschreien: „Geh doch zurück nach Stuttgart/Marienfelde/Göttingen, du Eumel!“

Ich hatte also an den ersten Mai gedacht, als ich nachts in der Damentoilette eines Clubs einen schlichten Aufkleber mit „Heute scheiß ich auf den Staat! 1. Mai, 15 Uhr, Kreuzberg“ entdeckte. Boah, dachte ich, boah, das gibt’s doch gar nicht! Warum nicht gleich „Urlaub mit der tui“! Zuerst versuchte ich, den Aufkleber abzuknibbeln, aber es schien ein echter Spucki zu sein, den man wegföhnen muss. Dann lieh ich mir an der Theke den Deckel-Kuli, um das „Kreuzberg“ auszustreichen, Krawall-Touristen sind ja so doof, die gehen dann vielleicht aus Versehen nach Zehlendorf. Aber, wie es in Kneipen immer so ist, als ich wieder Richtung Damenklo marschierte, hatte sich davor längst eine Schlange kleinblasiger Frauen gebildet, und meine Wut verwaberte etwas. Nicht ganz allerdings. Wenn ich am ersten Mai auch nur einen Schwaben in meinem Bezirk erwische, der erzählt, er habe den Demotipp von einem Aufkleber, den mach ich rund. JENNI ZYLKA