Der Wahrheit Raum bieten

Das Kollektiv als Autor: Das „Schreibstück“, eine Partitur für Tanz und Theater von Thomas Lehmen, dem Berliner Choreografen und Performer, wird europaweit in immer neuen Versionen aufgeführt

So entsteht ein dauernder Fluss aus Einzelbildern und Spiegelungen „Schreibstück“ macht als konkurrierender Wettbewerb und Improvisation Spaß

von FRANZ ANTON CRAMER

Wie viel Wahrheit passt in eine Minute? Laut Jean-Luc Godard lässt sie sich mindestens 24-mal ablichten. Wie viel Wahrheit auf eine Tanzbühne passt, ist schon schwerer zu sagen. Der Choreograf Thomas Lehmen sucht eine Antwort darauf mit neuen Konzepten. Wenn über den Tanz im herkömmlichen Sinne gesagt werden kann, er sei „das Fiktive an der Körperbewegung“ (Helmut Ploebst), dann geht es Lehmen um das genaue Gegenteil: den Augenblick der Wahrheit oder jedenfalls der Ehrlichkeit in der aufgeführten Bewegung zu suchen.

„Distanzlos“ hieß 1999 ein Solo, das davon handelte, welche Materialien des Lebens als Material der Kunst in Betracht kommen. Anstatt aber eine solche Auswahl tatsächlich zu treffen, führte Lehmen seine Performance immer entlang der Grenze zwischen Künstlichkeit und Realität, zwischen dem Nachdenken über sich selbst und dem Vorführen von Ideen. Auch „mono subjects“ (2001) fragte, wie man den Anforderungen der Bühne gerecht wird und trotz alledem nicht ins Spektakelhafte verfällt.

Aber die radikalste Antwort auf die Wahrheitsfrage im Tanz ist Lehmens „Schreibstück“. Denn es ist zuerst einmal ein Buch. Darin wird ein Tanzstück festgeschrieben und erläutert, an dem Lehmen als Autor alle Rechte hält. Nicht aber als Choreograf. Der Inhalt nämlich wird von anderen realisiert. Jeweils ein Choreograf und drei Tänzer kaufen die Rechte und machen aus der Partitur ein Stück. Drei solcher Interpretationen werden dann an einem Abend aufgeführt, organisiert wie ein Kanon. Was jedes Team aus den schriftlichen Anweisungen macht, muss sich zwangsläufig gegen die beiden anderen Fassungen behaupten können.

So entsteht ein dauernder Fluss aus Einzelbildern, Spiegelungen und Zufällen. „Das wichtigste Element in „Schreibstück“ ist die Zeit“, ruft ein Tänzer im Utrechter Akademietheater und schwenkt seine Stoppuhr. „Ganz gleich, was wir machen, es darf nur eine Minute dauern!“ Er ist gerade mit der Aufgabe „Stück erklären“ befasst. Davor lautete das Thema „Ficken“, später kommt etwa „Ich existiere“ oder „Drei Gefühle“. Insgesamt 39 solcher Themen gibt es, arrangiert in drei Abschnitten zu jeweils dreizehn Einheiten, die je eine Minute dauern. Was nach Kopflastigkeit klingt, ist inzwischen Grundlage für ein europaweit geknüpftes Netz aus Veranstaltern und Tänzern. Denn es ist ein Hauptanliegen von „Schreibstück“, die Regeln für Verstehen und Kommunikation unter verschiedenen Künstlern zu erweitern. Internationalität versteht sich da gleichsam von selbst. Versionen sind bislang in Amsterdam, Lissabon, Berlin, Helsinki, Tallinn und Nottingham entstanden, Brüssel, Antwerpen, Gent und Valenciennes folgen demnächst.

Natürlich mangelt es nicht an Vorwürfen gegen ein solches Korsett für die „freie“ Kunstform Tanz. Nach der Neufassung mit je einer Gruppe aus England, Holland und Estland, die im Rahmen des Utrechter „Springdance“-Festivals uraufgeführt wurde, erbosten sich manche über das Aufstellen der Regeln. Damit verhindere „Schreibstück“ die lebendige Begegnung mit dem Publikum, das ganze Projekt verachte die Institution Theater. Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass ein Großteil der Zuschauer den 3 mal 3 mal 39, also insgesamt 351 Wahrheitsmomenten ziemlich gut gelaunt folgte. „Schreibstück“ macht nämlich Spaß, als konkurrierender Wettbewerb, Improvisation und Kunststück. Mögen die einzelnen Interpretationen bisweilen unleserlich sein: Sie erlauben immer sehr persönliche Gesten. Gerade der allgemeine Rahmen der Szenen lässt jede Ausführung zugleich zu einem Porträt werden. Beim niederländischen Team – choreografiert von Klaus Jürgens (Hans Hof Ensemble) – war sogar Klamauk dabei. Zum Thema „Arbeiten“ schrieb man drei Pappdeckel mit der Zeile voll: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“ und sang anschließend, in der Abteilung „von weiterer Bedeutung“, dazu: „Völker, hört die Signale“. Natürlich nur eine Minute lang. So viel Systemtreue muss schon sein. Die Gruppe aus Nottingham hatte sich dagegen eher ans Tänzerische gehalten und eine Art schnörkellose Arbeiterfassung abgeliefert, während die drei estnischen Akteure fast alle Themen als Plattform für schnurriges Non-Acting verwendeten und sich auch mal (Thema Globalisierung!) zu Coca-Cola oder auch zum Nokia-Handy deklarierten.

Wem „Schreibstück“ dennoch zu sehr nach Tanz riecht: An eine Schauspielfassung wird bereits ernsthaft gedacht. Und vielleicht gibt es ja bald auch eine gesungene Partitur. „Schreibstück“, so hat sich in Utrecht wieder gezeigt, bietet in Wahrheit Raum für ebenso viele Freiheiten, wie man sich nur auszudenken wagt.

Thomas Lehmen hat seine Position als Choreograf damit nicht nur in die eines Autors verwandelt, sondern mehr noch in die eines Labels, das zu kollektivem Samplen einlädt. In der Wahrheit, die er sucht, ist Platz für viele. Das ist das Nette an seinen Konzepten.