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Archiv-Artikel

Skizzen fürs Leben

Balletttänzerinnen, Fechter, Ponys und Clowns: Im Aktsalon der Galerie Weißenseer Freitag lassen ungewöhnliche Modelle ihre Hüllen fallen

Alle warten auf Nina. Das Aktmodell soll breite Hüften haben, eine lange Mähne und sanfte Lippen. Gespannt sitzen die Zeichner auf Klappstühlen in der Galerie Weißenseer Freitag. Plötzlich ist ein Wiehern zu hören. Und dann steht das Modell mitten im Raum: Nina ist ein Pony.

Menschen zu verblüffen: Das ist das Konzept des Aktsalons, der immer montags in der Galerie von Holm Foltan tagt – eine Galerie im Brückencenter, einem langgestreckten Ladenkomplex an der Brückenstraße, unweit der Jannowitzbrücke. Mit dem Aktsalon und monatlich wechselnden Ausstellungen will Foltan, der seit Anfang der Neunzigerjahre der Künstlergruppe Weißenseer Freitag angehört, den Grenzstreifen zwischen Kreuzberg und Mitte wiederbeleben.

Der Boden ist mit weißem Sand ausgestreut, es ist gut geheizt, und Scheinwerfer sorgen für ausreichend Licht. Die Montagsmaler werden von der Salondame mit dem ungewöhnlichen Künstlernamen Fred empfangen. Die 38-jährige dreifache Mutter im kurzen, schwarzen Samtkleid hat in Hannover und in London studiert und unterrichtete bis vor kurzem an der FHTW Bekleidungsgestaltung. Seit vergangenem Februar versucht sie die englische Tradition des Aktsalons in Berlin zu etablieren. Vorbild ist die Londoner Hesketh Hubbard Art Society. Die gibt es seit 1930. Jeden Montag kommen dort Interessierte zum Aktzeichnen, wo Vizepräsident David Cottingham, der auch am Saint Martins College Aktzeichnen lehrt, jeden Gast persönlich begrüßt. Der Künstlerin Fred schwebt Ähnliches vor. Allerdings setzt sie noch eins drauf: Bei ihr posieren Balletttänzerinnen mit schwieligen Füßen, grimassieren Clowns mit roten Nasen, schwingen Profifechter Floretts. Einmal seilte sich gar ein Hochleistungssportler von der Decke ab. Das ist ein cleverer Schachzug in Sachen PR, aber hat auch einen inhaltlichen Grund: „Anders als in akademischen Aktmalereikursen möchte ich durch ungewöhnliche Modelle Vitalität in die Bilder bringen. So kann es auch mal sein, dass ein Modell eine Bewegung vorführt“, sagt sie. Erst dann fallen die Hüllen. Wenn Frauen Akt stehen, werden die Vorhänge vor den Ladenfenstern zugezogen. Ansonsten ist die Tür für Schaulustige jederzeit geöffnet.

Dass Aktzeichnen in Deutschland schon lange keine Tradition mehr habe, bedauert die Salondame, die bereits als Vierzehnjährige mit dem Aktzeichnen begann. Als sie Mitte der Achtzigerjahre studierte, war Aktzeichnen an den Hochschulen im Westen verpönt. „Die Professoren wollten damals abstrakte Kunst, dabei ist Zeichnen dafür die Grundlage. Anders im Osten. Dort legte man in den Kunstschulen auf figürliches Zeichnen großen Wert.“ Für die Künstlerin ist Aktzeichnen mehr, als nur nackte Menschen bildnerisch festzuhalten. Sie sieht in den Skizzen ein Archiv, auf das man zeit seines Lebens zurückgreifen könne.

Matthias Gombert fängt mit dem Sammeln gerade erst an. Der Zivildienstleistende mit dem Basecap und den Baggyhosen möchte sich gegen den Willen seiner Eltern an einer Kunstschule bewerben. Für ihn ist der Aktsalon ein Ort des Austauschs und der Unterstützung. Reglinde Rauskolb aus Pankow, 61 Jahre alt, hat zwar an der Freien Kunstschule studiert, aber so richtig war Aktzeichnen nie ihr Ding, sagt sie. Zu groß sei der Leistungsdruck gewesen. „Hier kann ich endlich in Ruhe zeichnen.“

In den Salon kommen nicht nur angehende oder bereits etablierte Künstler. Auch Juristen und Mediziner greifen zum Zeichenstift, „denn hier lernen Anfänger von erfahrenen Zeichnern“, so Fred. Etwa Lara. Das achtjährige Mädchen mit blonden Zöpfen ist in Begleitung ihres Vaters gekommen und zeichnet in Seelenruhe das hufescharrende Pony. Pferde sind ihre Lieblingsmotive. Nackte Menschen findet sie eher komisch.

Ein Künstler, der ungenannt bleiben möchte, lehnt an der Wand und zeichnet in sein Skizzenbuch. Er kommt regelmäßig, weil er es gut findet, „dass das hier nicht so volkshochschulmäßig abläuft. Außerdem korrigiert hier keiner.“ Als die Teepause ausgerufen wird, klatscht er geradezu chefmäßig in die Hände, um die Zeichnenden bei ihrer Arbeit zu unterbrechen. Aber man kann eben nicht immer aus seiner Haut. Nicht mal beim Aktzeichnen. KATJA WINCKLER

Galerie Weißenseer Freitag, Brückenstraße 5–6, Mitte, Tel.: 92 37 16 16