piwik no script img

Archiv-Artikel

Immer auf Achse

Die Vaterschaft ist keine natürliche Bindung: Eine Geschichte nicht nur für junge Eltern, sondern vor allem auch für die netten, hilfsbereiten Menschen, die gern mal auf die Kleinen aufpassen

von JOCHEN SCHMIDT

Endlich hatte ich wieder ein Mädchen im Bett, aber so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Sie sah mich herausfordernd an und nuckelte an meiner Fernbedienung. Sobald ich das Zimmer verließ, fing sie an zu weinen. Ich konnte mir nicht einmal eine Stulle schmieren. Am Nachmittag hatte Monica mich angerufen: „Kannst du heute Abend zwei Stunden auf Conchita aufpassen? Ich muss was erledigen, und mein Mann hat keine Lust.“ Ich war noch nie mit einem acht Monate alten Kind allein gewesen und deshalb ein bisschen neugierig. Bis zum Abend bereitete ich alles vor. Ich suchte meine Wollschafsammlung zusammen, bastelte Spielzeug aus alten Saftpackungen und Kronkorken und legte mir Bücher zurecht, die ich in der Zeit lesen wollte. Es wäre bestimmt angenehm zu lesen, während das Kind über meinen Fußboden krabbelte.

Abends kam Monica mit Conchita und einem großen Beutel. Sie erklärte mir, was ich zu tun hatte: „Sie isst im Moment nicht gern. Du musst sie ablenken und ihr dann einen Löffel reinschieben. Hier ist das Lätzchen. Und hier sind Taschentücher, sie sabbert immer. Und hier ist ihre Flasche. Und wenn sie groß muss, hier ist eine Windel und Wundsalbe, sie hat gerade einen Hautpilz. Hier sind feuchte Tücher, die sind sehr praktisch. Normalerweise muss sie aber nicht mehr am Abend.“

„Und wozu ist das hier?“, fragte ich und zeigte auf einen Schneebesen. „Damit spielt sie gerne.“ Monica hatte keinen Fernseher, wahrscheinlich lag es daran, dass Conchita Fantasie entwickelt hatte und mit allem Möglichen spielen konnte. Letztes Mal hatte sie mit meinem Bleistiftanspitzer Bonbon lutschen gespielt.

Als Monica weg war, gab ich Conchita eine halbe Kinderüberraschungseikapsel. Aber auch die schob sie sich in den Mund wie ein Pessar. Daran kann man doch ersticken, dachte ich mir, und nahm sie ihr wieder weg. Jetzt wollte sie, dass ich das Ding in den Mund nahm. Weil ich das voll gesabberte Stück Plaste nicht wollte, fing sie an zu heulen. Klassischer Fehlstart. Insgeheim hatte ich mir vorgenommen, Conchita in den zwei Stunden, wenn nicht Sprechen, dann doch zumindest Gehen beizubringen. Bisher konnte sie ja nur Sachen rauswühlen und Papiertaschentücher zerreißen, sicher schon mehr als andere Kinder in ihrem Alter, aber zu wenig für unsere Wettbewerbsgesellschaft. Aber anstatt mit mir sprechen zu üben, hangelte sie sich schwer atmend an meinen Möbeln entlang. Genau, wie sie es in 80 Jahren wieder tun würde. Sie stand ein wenig schwankend am Schrank und grinste, bevor sie hinfiel und heulte. Sie litt offenbar unter extremen Stimmungsschwankungen.

Nicht drauf eingehen, dachte ich mir, Kinder brauchen Grenzen. Ich setzte mich an den Laptop und versuchte, mich auf mein Werk zu konzentrieren. Aber das Kind hörte nicht auf zu heulen, es wollte auch am Laptop sitzen. Ich nahm es auf den Schoß. Na gut, dann lernen wir eben erst Schreiben und dann Sprechen. Aber sie wollte nur auf die Tastatur hauen und den Bildschirm ablecken, vor allem diesen einen blauen Knopf. So ging das nicht. Es waren gerade zehn Minuten vergangen, und ich wusste schon nicht mehr weiter. Ich beschloss, ihr zu ihrer schönsten Kindheitserinnerung zu verhelfen und machte den Fernseher an. Währenddessen suchte sie nach Sachen, die sie sich in den Mund stecken konnte. Ja, meine Ohrstöpsel könnten mal wieder saubergelutscht werden, waren schon ganz schwarz vom Ohrenschmalz.

Ich gab ihr eins meiner Wollschafe, aber sie beachtete es gar nicht. Sie versuchte nur, das Auge rauszupulen. Mir fiel ein, dass Conchita gar nicht wusste, was ein Schaf war, und deshalb nicht damit spielen wollte. Sie hangelte sich wieder am Schrank entlang zum Spiegel. Dort sah sich selbst an und murmelte etwas. Als sie es nicht schaffte, durch den Spiegel durchzugehen, fing sie wieder an zu heulen. Inzwischen hatte ich es aufgegeben, ihr irgendetwas beizubringen, ich wäre schon froh gewesen, wenn sie nicht geschrieen hätte.

Ich versuchte es mit Füttern. Alles, was ich ihr in den Mund schob, kam aus der Nase wieder heraus. Aber immerhin war für eine Weile Ruhe. Wir sahen zusammen fern, und sie trank gierig aus der Flasche. Ab und zu griff sie mir mit dem Zeigefinger ins Nasenloch. Den Brei wollte sie nicht, obwohl er hervorragend schmeckte. Das trockene Brot war ihr lieber. Ich aß den Brei selbst, Monica würde staunen. Dann schrie Conchita wieder und hörte nicht mehr auf, alles Schütteln half nichts. Es roch auch seltsam. Noch eine halbe Stunde, war das durchzuhalten? Anscheinend hatte Conchita doch einmal eine Ausnahme gemacht. Ich räumte seufzend meine Manuskripte zur Seite und knöpfte die komplizierte Kleidung auf. Ein BH war gar nichts dagegen. Sofort grinste sie mich an, sie wusste Bescheid. Aus ihrer Windel schlug mir ein beißender Geruch entgegen.

Merk dir genau, was du hier tust, sagte ich mir, es ist das letzte Mal im Leben. Und wenn die Menschheit ausstirbt, besser als das. Ich tat, was ein Mann tun musste, und fluchte dabei leise vor mich hin. Aber immerhin war jetzt Ruhe. Noch ein paar gierige Züge aus der Flasche, und dann aufs Bett. Fernsehen, eine der größten Erfindungen der Menschheit. Was sollte daran schädlich sein? Es befreite uns von unseren Kindern und regte deren Fantasie an. Kinderprogramme waren absolut überflüssig, Hauptsache bunt. Am besten gingen Talk-Shows. Ich starb inzwischen vor Hunger, und auf meinem Laptop war statt eines neuen Textes ein buntes Krikelkrakel zu sehen, das ich für Conchita gemalt hatte.

Über den Fußboden verteilt lagen ein Lätzchen, zwei Plastetassen, ein Schneebesen, eine Tüte mit einer benutzten Windel, Dutzende benutzte Taschentücher, ein paar Wollschafe, ein Glas Aletebrei, und fast hätte der Laptop auch dort gelegen, wenn ich ihn nicht im letzten Moment aufgefangen hätte. Einer dieser Politiker hatte doch für den Fall seiner Wahl zum Bundeskanzler eine alleinstehende Mutter als Familienministerin vorgesehen. Warum haben sie ihn nicht gewählt? Sie hätte ein Vorbild für alle Frauen sein können.

Diese Geschichte und viele andere stehen auch in Jochen Schmidts neuem Buch „Seine größten Erfolge“, das heute bei dtv erscheint, 180 Seiten hat und 12 € kostet