: Neoliberale Henker
Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler greift die Beutejäger des globalisierten Kapitals scharf an – und ruft zu einer weltweiten Gegenbewegung von unten auf
Die Realität der globalisierten Welt besteht aus „einer Kette von Inseln des Wohlstands und des Reichtums, die aus einem Meer des Völkerelends herausragen“, schreibt der Schweizer Jean Ziegler in seinem neuen Werk. Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung plädiert darin engagiert gegen die „neuen Herrscher der Welt“.
Im Lauf der letzten zehn Jahre hat sich der Welthandel versechsfacht und unermesslichen Reichtum erwirtschaftet. Bill Gates, der reichste Mann der Erde, besitzt so viel Geld wie die ärmsten 120 Millionen US-Bürger. Unternehmen erzielen Gewinne, die dem Haushalt eines Staates wie Dänemark entsprechen, während gleichzeitig 826 Millionen Menschen permanent schwer unterernährt sind.
Das Finanzkapital stellt eigene Gesetze auf und errichtet einen „übernationalen Staat“, der über eigene Verwaltung, Einflussgebiete und Politik verfügt: den Internationalen Währungsfonds IWF, die Weltbank, die OECD (Organisation für ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung) und die Welthandelsorganisation WTO.
Die Folgen zeigen sich verschärft in den Ländern des Südens. Das Beispiel Brasilien verdeutlicht die extrem ungleiche Einkommensverteilung: Nach einem Bericht der UNO lebten dort im Jahr 2000 noch 5 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze; mittlerweile sind es 9 Prozent, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen. Die reichsten 10 Prozent der Brasilianer besitzen über 47 Prozent, während die ärmsten 10 Prozent nur über 1 Prozent des gesamtgesellschaftlichen Einkommens verfügen.
Auch „die Privatisierung der Welt“ schwächt die „normensetzende Kraft des Staates“, betont Ziegler. Die Folgen sind weitgehend und betreffen auch die Sozialsysteme des reichen Nordens. Durch die marktförmige Umgestaltung des Gesundheitswesens, eine Spaltung in Wahl- und Pflichtleistung der Krankenkassen sowie umfassende Privatisierungen wird Krankheit für immer breitere Bevölkerungsschichten zum Armutsrisiko. Das neoliberale Musterland Chile zeigt, wie sich die Privatisierung der Sozialversicherungen auswirkt – und kann als abschreckendes Beispiel für Europa dienen. Denn Finanzkonzerne haben nur Interesse an gesunden Beitragszahlern, soziale Belange spielen in den Überlegungen des Managements keine Rolle.
Bereits seine Auseinandersetzungen mit der Politik Schweizer Banken („Die Schweiz wäscht weißer“) haben gezeigt, dass Ziegler sich mit Themen auseinander setzt, die ihm keine Freunde unter den Mächtigen schaffen. In seinem Heimatland halten ihn viele für einen Nestbeschmutzer. Geprägt ist der Soziologe durch eine zweijährige Arbeit als UN-Experte in Afrika, die er kurz nach der Ermordung Patrice Lumumbas begann. Seinem damals entwickelten Grundsatz – „Ich habe mir geschworen, nie wieder, auch nicht zufällig, auf der Seite der Henker zu stehen“ – ist er bis heute treu geblieben.
Neben einer ausführlichen Darstellung der neuen Herrscher der Welt, der „Beutejäger“ des globalisierten Kapitals, der „Barone“ der transkontinentalen Konzerne und der Börsenspekulanten ruft Ziegler auch zum Engagement auf. Nicht nur übergreifende Aktionen von Attac oder Gegnern der Davos- und G-7-Treffen spielen dabei eine Rolle, auch die Bewegung der Landlosen in Brasilien, die Ziegler aus vielen Gesprächen und Besuchen vor Ort kennt.
MARCUS SCHWARZBACH
Jean Ziegler: „Die neuen Herrscher derWelt und ihre globalen Widersacher“.320 Seiten, C. Bertelsmann, München 2003, 22,90 €