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Archiv-Artikel

Russlands Wählern ist die Regierung egal

Kurz vor den Präsidentschaftswahlen muss der Kremlchef nun einen neuen Premierminister ernennen. Für ihn kommt es darauf an, die Wahlkampfzeit ohne Herausforderer und Konkurrenten zu überbrücken. Putins Wille geschieht

Das Volk soll die Wahlen vor dem gleichgeschalteten Fernsehen nicht einfach verschlafen

MOSKAU taz ■ Präsident Wladimir Putin beherrscht den aufklärerischen Dialog mit dem Bürger perfekt. Überhaupt ist der russische Präsident ein Genie, wenn es um Aneignung und wirkungsvolles In-Szene-Setzen westlicher Inhalte geht. So verkaufte der Kremlchef die überraschende, aber nicht ganz unerwartete Entlassung des Premierministers Michail Kasjanow knapp drei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen als Ausdruck seines Bemühens, dem Wähler klaren Wein einzuschenken. Der Wahlbürger solle wissen, worauf er sich einlässt, wenn er denn Wladimir Putin seine Stimme am 14. März tatsächlich geben wolle.

Rund 80 Prozent der Bürger haben dies vor. Die Transparenz des KGB-Oberst a. D. Putin hat aber auch Grenzen. So teilte er dem Wahlvolk nicht mit, wen er an Stelle des geschassten Premiers ernennen wird. Das muss laut Verfassung in den nächsten zwei Wochen geschehen, und diese Zeit nimmt sich der alte und neue Kremlchef. Denn es gilt eins: Putin muss die Vorwahlkampfzeit ohne Herausforderer überbrücken und dafür sorgen, dass das Wahlvolk nicht vor dem gleichgeschalteten Fernsehen die Wahlen einfach verschläft. Oder sich in der nicht ganz falschen Annahme wiegt: Sollte er nicht zur Wahl gehen, wird das die administrative Ressource, das Allheilmittel der russischen Macht, schon selbst erledigen.

Außer Hofschranzen im Kreml und Lakaien in dessen Subsystemen interessiert die Besetzung des Kabinetts die Bürger überhaupt nicht. Sie wissen doch: Was zurzeit in Russland geschieht, ist ausschließlich der Wille Wladimir Putins. Durch die Wahl des Zeitpunktes und den wohl orchestrierten Theaterdonner hat der Kremlchef ebendies unterstrichen. 90 Prozent der Bevölkerung halten Russlands Regierung in Umfragen für den eigentlichen Hort der Willkür, die Hälfte der Bürger sieht sich diesem System schutzlos ausgesetzt. Der Wähler weint der scheidenden Regierung Kasjanow mithin keine Träne nach. Daran wird sich auch nichts ändern, weder mit einem neuen Ministerpräsidenten noch mit dem neuen alten Kremlchef, unter dessen Ägide die hypertrophe Bürokratie schließlich noch einmal hunderttausend Parasiten mehr der schlummernden russischen Bärin in den Pelz gesetzt hat. Außerdem werden die meisten Mitglieder des alten Kabinetts auch dem neuen angehören.

Denn der Kremlchef wollte vor allem den ungeliebten Kasjanow ausschalten, der dem Klüngel um Boris Jelzin – früher „Familie“ genannt – entstammte und dessen Interessen verteidigte. Mit dem Rauswurf gab Putin der „Familie“ zu verstehen, dass er von nun an auf ihre Interessen keine Rücksicht mehr nehmen werde. Was mag damit aber gemeint sein? Eine Revision der Eigentumsentscheidungen aus den 90er-Jahren? Analog zum Fall des Ölmilliardärs Michail Chodorkowski, dessen Ölimperium Yukos die russische Staatsanwaltschaft gerade in verdauliche Filetstückchen zerlegt?

Klar ist: den Petersburger Putin-Clan beunruhigen weniger politische Richtungsentscheidungen als der Zugriff auf und die Neuverteilung der lukrativen Wirtschaftsbranchen. All das notdürftig drapiert mit Fähnchen, patriotischem Geschmuse und Großmachtgedusel für ein gelangweiltes Volk. Wen Putin letztlich auf den Premiersposten hievt, das hat für die innenpolitische Entwicklung Russlands so gut wie keine Bedeutung: Das Volk sieht in Putin ohnehin den guten – da nichts ahnenden – Zaren, dem die Bereicherungsorgien seiner Untergebenen nur verborgen geblieben sind.

Das gewaltige Gefälle zwischen dem Vertrauen der Bürger zum Präsidenten einerseits und seinem Staat andererseits ist eine Quelle potenzieller Bedrohung für die Macht im Kreml. Daher wird Moskau an dem autoritären innenpolitischen Kurs festhalten: unabhängig davon, ob Finanzminister Alexander Kudrin den Zuschlag des Premiers erhält oder Sergej Iwanow, Putin-Intimus aus alten Petersburger KGB-Zeiten. Er war Russlands letzter Verteidigungsminister und wird es wohl bleiben, wenn er nicht mit der Kabinettsführung beauftragt wird. Im Gespräch ist auch der stellvertretende Chef der Präsidialadministration Igor Schuwalow, der seit letztem Mai für Wirtschaftsreformen verantwortlich war. Verantwortlich zeichnet aber nur einer. Der Verwandlungskünstler Wladimir Wladimirowitsch Putin. KLAUS-HELGE DONATH