: Eine „Modellschule“, die kein Problem löst
Äußerlich wird das Gebäude, wo das Erfurter Schulmassaker stattfand, eine Mustereinrichtung. Weder der Direktorin des Gutenberg-Gymnasiums noch den Schülervertretern ist das innerlich angenehm. Nach der großen Trauer über die Tat wird der Ruf nach substanziellen Konsequenzen wieder leiser
aus Erfurt MICHAEL BARTSCH
„Wir haben noch nicht alles Menschenmögliche getan“, gestand Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel vor 10.000 trauernden Erfurtern ein. Oberbürgermeister Manfred Ruge sieht die Stadt gar „am Anfang eines langen steinigen Weges der Aufarbeitung“. Diesen Weg konkret beschreiben aber wollte in den Tagen des Gedächtnisses an das Massaker im Gutenberg-Gymnasium kaum jemand. Nun sind ehrliche Trauer, modische Selbstkritik, wissenschaftliche Tagungen und die telegene Wiederbeschwörung der Lust am Grauen wieder Geschichte. „Wir können die voyeuristischen Berichte kaum mehr ertragen“, sagt Stadtschülerratssprecher Marcel Mansfeld. Die Frage nach Konsequenzen aber wird in der Routine des Schulalltags wieder verstummen.
Eine irrationale „Unfassbarkeit“ dominierte die Ausstellung der Plakate und Kondolenzbriefe im benachbarten Erfurter Bundesarbeitsgericht. Die Frage, wie die Wahrscheinlichkeit solchen „Durchknallens“ zu senken sei, beschäftigt aber auch hier die Besucher. „Es war doch absehbar, dass so etwas eines Tages passieren würde“, meint Tobias, ein Erfurter Berufsschüler. Kinderfeindlichkeit und Leistungsdruck heißen seine Stichworte.
Pascal Mauf, einer der damals stundenlang eingeschlossenen Mitschüler, geht weiter: „Es sind entweder alle schuld oder keiner, weil Robert (der Amokläufer) wie wir alle ein Produkt der Gesellschaft ist.“ Pascal hat seine Konsequenzen gezogen. Nicht, wie geplant, die Offizierslaufbahn hat er eingeschlagen, sondern ist Zivildienstleistender an seiner ehemaligen Schule geworden.
Das Land Thüringen hat die Möglichkeit eines Realschulabschlusses für Gymnasiasten geschaffen und damit die Angst vor dem vergeigten Abi gemildert. Eine längst überfällige Angleichung an andere Bundesländer, die nichts kostet. Ebenfalls kostenlos ist die Einführung der Informationspflicht auch an Eltern volljähriger Schüler, wenn gravierende Dinge in der Schule schief laufen.
Beide Maßnahmen hat allerdings Harald Döring, Vater von zwei Schülern und Vorsitzender des Schulfördervereins am Gutenberg-Gymnasium, kritisch hinterfragt. Der Jurist versteht nicht, warum für den Realschulabschluss eine spezielle Prüfung absolviert werden muss – und damit doch nur eine „dem Realschulabschluss gleichwertige Schulbildung“ erreichbar ist. Außerdem muss ein volljähriger Schüler mit der Weitergabe ihn betreffender Informationen an die Eltern einverstanden sein.
Nicht ganz kostenlos und wirklich wichtig ist die Verdopplung der Zahl der Schulpsychologen in den 13 Schulamtsbezirken Thüringens, in denen bislang nur ein einziger Berater zur Verfügung stand. Immerhin 8,7 Millionen Euro stellt das Land nun für die Schuljugendarbeit zur Verfügung, auch wenn es sich dabei mehr oder weniger nur um die in Sachsen schon praktizierte kostengünstige Vernetzung mit außerschulischen Nachmittagsangeboten handelt. Die Schulsozialarbeit hingegen liegt, wie in den meisten ostdeutschen Bundesländern, weiterhin im Argen. Der zuständige Sozialminister Frank-Michael Pietzsch hatte unter dem Eindruck der Katastrophe noch mindestens einen Sozialarbeiter je Kreis versprochen.
Wo Prävention mit dem Einsatz von Ressourcen verknüpft sein müsste, verstummen goldene Worte bald. Sogar Erfurts Oberbürgermeister, immerhin stellvertretender CDU-Landeschef, vermisst im neuen Thüringer Schulgesetz den „innovativen Ansatz“. Und Direktorin Christiane Alt vom Gutenberg-Gymnasium ist bei der Frage nach den Konsequenzen sichtlich um die Wahrung ihrer Loyalitätspflicht bemüht. Für sie ist das neue Schulgesetz nicht mehr als ein Einstieg. Die für den Lehrer-Schüler-Kontakt so wichtige Klassenleiterstunde ist nach dem Massaker erst einmal für zwei Jahre befristet erlaubt worden, muss aber aus dem vorhandenen Stundendeputat gedeckt werden. „Die Stunde hatten wir vor 1990 schon einmal“, erinnert die Direktorin. An Sozialarbeitern und Psychologen aber herrsche nach wie vor Mangel. Was sie am meisten bedrückt: „Man muss den Lehrern mehr Zeit für die Erfüllung des Erziehungsauftrages geben!“ Eine Forderung, die identisch ist mit der nach Stellen und kleineren Klassen – mithin dem finanziellen Einsatz. „Man darf nicht den Lehrern die Schuld an der zunehmenden Sprachlosigkeit geben“, verteidigt sie auch Marcel vom Stadtschülerrat. „Sie haben einfach keine Zeit!“
Nun hat es in dem Jahr nach der Bluttat im Gutenberg-Gymnasium zweifellos ein Aufeinanderzugehen von Lehrern und Schülern und reichlich äußere Hilfe gegeben. Vorwürfe, speziell das Haus betreffend, sind nicht angebracht. „Wir hätten den Schock nicht überstanden, wenn das Klima nicht in Ordnung gewesen wäre“, versichert Direktorin Alt.
Niemand weiß genau, woher die Idee kam, alles am Gutenberg-Gymnasium nun besonders gut zu machen und mit dem Wiedereinzug in das sanierte Gebäude eine Modellschule zu errichten. Auch das Kultusministerium lehnt die geistige Urheberschaft ab und spricht von einer „normalen“ Schule. Dennoch diskutieren alle darüber – und lehnen zugleich diesen Gedanken nahezu einstimmig ab. „Man macht mit angeschlagenen Menschen keine Modellversuche“, verwahrt sich die Direktorin ganz entschieden. „Der Begriff Modellschule macht mich ganz krank!“, ergänzt Religionslehrer Christoph Brinkmann.
Durch die Abordnung von Lehrern und den psychologischen Betreuungsaufwand ist dem Gutenberg-Gymnasium allerdings schon eine Sonderrolle zugefallen. Für die Ausgestaltung des mit 10 Millionen Bundeseuros auf’s Feinste renovierten Jugendstilgebäudes können Schüler eigene Ideen und Vorschläge einbringen. Wo gibt es das sonst? Äußerlich wird das imposante Gebäude eine Musterschule, und weder der Direktorin noch den Schülervertretungen ist das innerlich angenehm. Weil es Neidgefühle bei anderen in der Stadt weckt, weil man eine Alibifunktion vermutet und weil es vor allem auf den Geist an der Schule ankommt. Nur der kann vergleichbare Katastrophen künftig verhindern.