: Ein zugeflogenes Glück
Exakt 2.177 Berliner und Berlinerinnen feiern am 29. Februar ihren Geburtstag. Und stecken in dem Zwiespalt, damit gleichzeitig zu hadern und zu kokettieren. Auf eines verzichten die Mitglieder des geheimen Schalttag-Clubs jedenfalls gerne: dass man sie für das exotische Datum bedauert
VON FRANZA ZELLER
Alle vier Jahre dasselbe Theater: Da wird uns der Kalender erklärt. Schuld ist der 29. Februar. Angeblich gibt er Rätsel auf. Mir aber nicht. Ich weiß bestens Bescheid. Schließlich gehöre ich zu jener Minderheit, die an so einem Tag geboren wurde. Es handelt sich übrigens um die einzige Minderheit, bei der es egal ist, ob ihr echtes oder gespieltes Mitgefühl entgegenschlägt. „Ach Gott, du Arme, wann feierst du denn?“ – „Wie alt wirst du?“ (Selten älter als 20.) – „Aha, du bleibst ewig jung.“ Hör auf, ich hab gar nicht gesagt, dass ich getröstet werden muss.
Hier geht es um etwas anderes als um ein Bedauern. Der 29. ist besonders! Mit dieser Erkenntnis kokettiert, wer an dem Tag Geburtstag hat. Was kaum jemand, der nicht zum Schalttags-Club gehört, kapieren will: Das Besondere spürt man nur, wenn der Tag ausfällt. Geburtstag haben ist das Normalste auf der Welt. Keinen Geburtstag haben dagegen ist außergewöhnlich. Dieser Widerspruch lässt sich nicht lösen. Ich jedenfalls habe ein gespaltenes Verhältnis zum 29. Februar. Ein Sowohl-als-auch-Gefühl, Positiv-negativ-Richtungsschwankungen in der Art, wie sie sich hinter Hassliebe, Glückstraurigkeit, Aufmerksamkeitsignoranz verbergen. So in etwa muss man sich den Zwiespalt vorstellen.
Damit Sie verstehen, wie sich das im Alltag auswirkt, erzähle ich von einem Mann, den ich gar nicht kenne: Prof. Dr. phil. Max Steller lauten Name und Titel. Forensiker ist er an der Freien Universität, mit Lügendetektoren kennt er sich aus. Anders als bei seinen Kollegen steht auf seiner FU-Homepage groß neben seinen Namen sein Geburtsdatum: 29. 2. 1944. (Herzlichen Glückwunsch zum Sechzigsten!) Leute wie ich erkennen die Bedeutung des Datums sofort. Kein Wunder also, dass ich gern mit Steller von Du auf Du über den 29. Februar sprechen wollte, ihn fragen, wie es sich damit lebt. Er hat mein Ansinnen zurückweisen lassen. Niemand soll erfahren, dass er Geburtstag hat (Zeitung), aber alle sollen es wissen (Homepage). So fühlt sich Aufmerksamkeitsignoranz an.
Sie kann sich auch anders anfühlen: Einmal stand ich an einem 28. Februar im Blumenladen. Es war kein Schaltjahr. Vor mir ein Teenager. So, dass alle es hören können, tut seine Mutter kund, dass ihr Töchterchen sich an ihrem ausfallenden Geburtstag dennoch einen Blumenstrauß aussuchen solle. Da stand die Kleine und es war klar, sie sonnte sich im Anderssein. Ich wollte ihr das Terrain nicht alleine überlassen und sagte, dass ich auch dazugehöre. Ihr Blick war vernichtend. Hätte sie eine Entmaterialisierungspistole gehabt, sie hätte mich aufgelöst. So aber traf mich nur wortlose Verachtung. Ich hatte um das Besondere mit ihr konkurriert. „Wo wa schon bei sind“, sagte die Kundin, die hinter mir in der Schlange im Blumenladen stand, „meene Tante ooch.“ Da war ich sauer auf die Tante dieser Frau.
Wie zu sehen ist, wachsen ProbandInnen eben erst langsam in die Rolle eines Schaltjahreskindes hinein. Einen oberen Reifegrad hat Klaus-Dieter Lehmann erreicht. Schon zu seinem Sechzigsten vor vier Jahren nannte der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die am 29. Februar Geborenen eine „qualifizierte Minderheit“. Trotz großer mitmenschlicher Grenzerfahrungen sind sie im Vorteil. Sie wissen, was sie haben, und die anderen wissen es nicht.
2.177 Leute sollen in Berlin am Sonntag Geburtstag haben. Kurz ist die Pressemitteilung des Statistischen Landesamtes dieses Jahr, aus der die Zahl hervorgeht. Früher konnte man mit dem Amt noch ausführliche Gespräche führen über Schaltminuten und Schaltsekunden oder fachsimpeln über bezirksweit aufgeschlüsselte Listen der am 29. Februar Geborenen. Es lag daran, dass einer von uns in der Behörde saß. Klaus Szaflinski hieß er, auf seine Weise hat er ein bisschen statistische Glückstraurigkeit gestreut.
Richtig berühmte Schalttagsgeborene gibt es selbstredend auch. Die Listen, auf denen sie stehen, werden immer länger. Das liegt an den Fanzines, die uns sammeln und auflesen wie Äpfel, die vom Baum gefallen sind. Giacomo Rossini, der sich am Ende seines Lebens für die kulinarischen Genüsse mehr begeistert haben soll als für die Musik, ist wohl der Bekannteste. Leo von Klenze, dessen Unsterblichkeit durch eine nach ihm benannte ICE-Strecke gefördert wurde, der Lochkartenerfinder Herman Hollerith und der Maler Balthus werden auch immer erwähnt. Mir passt es mehr, mit Anna Lee, die die Shaker-Bewegung in Amerika einführte, oder den Sängerinnen Dinah Shore und Gretchen Christopher Geburtstag zu haben. Kaum verwunderlich, dass außer ihnen noch jede Menge Fanatiker, Künstlerinnen, Präsidenten und Visionärinnen unter uns sind.
Ich weiß nicht, wie Sie es mit dem Unangepassten halten, mir gefällt’s. Es ist an der Unwägbarkeit eines Kalendertages geschult. Das aber ist mein Geheimnis. Wie übrigens auch mein wahrer Name. Ich nenne ihn nicht, weil ich mich ziere, für etwas Aufmerksamkeit zu bekommen, das mir zugeflogen ist wie anderen – mit etwas Glück – ein sprechender Papagei.