: Frühling in Prag
Es gibt ein Leben nach „Esra“: Maxim Biller beweist sich mit seinem neuen Erzählband „Bernsteintage“ als echter Meister der literarischen Kurzform
VON GERRIT BARTELS
Fast hätte man es bei dem ganzen juristischen Hickhack um seinen immer noch verbotenen Roman „Esra“ vergessen können: Maxim Biller ist ein Schriftsteller, der ein Schriftstellerleben vor „Esra“ hatte. Einer, der nicht nur Gerichte und Anwälte beschäftigt, sondern weiterhin Texte schreibt. Der gern mal eine Literatur propagiert, die aufrührerisch und prallvoll mit Leben sein soll, die sich selbst vergessen darf, aber voller Wahrheit sein muss, die politisch inkorrekt sein darf, aber eben nur um der Wahrheit willen, die moralisch korrekt sein soll, aber nicht moralinsauer. Literatur also, die viel sein darf und muss – bloß nicht selbstverliebt, bloß keine „Schlappschwanzliteratur“.
Mit seinem neuen Buch, einem Erzählband mit dem schönen Titel „Bernsteintage“, beweist Biller, dass es noch ganz anders geht: leiser, zarter, sanfter, gar kunstvoller, aber nicht weniger aufrichtig. Anders als bei seinen formidablen Kurzgeschichtensammlungen aus den frühen Neunzigerjahren kommt er nun ohne den damals seinen Geschichten oft innewohnenden Furor aus. Ohne das oft plakative Ausstellen der jüdischen Identität seiner Figuren. Ohne diese epigonale Philip-Roth-Art, die auch Juden Arschlöcher sein lässt, Verbrecher, Ehebrecher, Lügner, Sexmonster etc., und ein Leben auch diesseits von Judengassen und des Holocaust einfordert, im „fantastischen Trubel der Kunst, der Politik und des wissenschaftlichen Diskurse“, wie Biller einmal schrieb.
Gehalten in einem traditionell-konventionellen Erzählton, aber sorgfältig gearbeitet, klug aufgebaut und durchdacht, wirken seine neuen Geschichten reifer, verbindet sie eine Mischung aus melancholischer Vergeblichkeit und frisch gewonnener Altersweisheit. Sie enthalten so schöne Sätze wie „Wenn man darauf wartete, kam es nie. Es kam nur, wenn man nicht darauf wartete. Es war wie alles im Leben“ oder „Alles war, wie es war, und wie es anders hätte sein können, wusste man nicht“. Und obwohl die jüdisch-deutsch-tschechischen Biografien von Billers Figuren einmal mehr verschlungen, von den historischen Zeitläufen arg durcheinander gewirbelt sind – sie allein würden Stoff für mehrere Romane abgeben –, drehen sich die sechs „Bernsteintage“-Erzählungen in ihrem Kern um Liebe und Alltag, um Schuld (mehr) und Unschuld (weniger) und um die Macht der Erinnerungen. Ihr zeitliches Zentrum sind die Siebzigerjahre, das Jahrzehnt, in dem die „Lustigen Taschenbücher“ noch abwechselnd farbige und schwarzweiße Seiten hatten, Deutschland Fußballweltmeister wurde oder eine Journalistin erst Fragen stellte wie „Stirbt die Literatur?“, um später die Schreibmaschine gegen eine MP einzutauschen.
Von diesem bewegenden Jahrzehnt aus durchdringen sich hier die Zeiten und treiben fortwährend Erinnerungen an Kindheit und Jugend hervor. Nur fragen sich die Figuren mitnichten, „warum gerade diese beiden Lebensphasen das Schönste sind, was ein Mensch erleben kann?“, wie es der Klappentext irrlichternd verspricht. Das gilt gerade mal für die Titelerzählung, in der der achtjährige David weitgehend unbeschwerte Tage in einem Sanatorium in Luzienbad verbringt, kurz bevor russische Panzer den Prager Frühling abrupt beenden – ein Ereignis, das sein Leben verändern wird, ohne dass er das ahnt: „Einen Krieg, dachte er, bevor er die Augen schloss, hatte er sich immer ganz anders vorgestellt. Einen Krieg überstand man ja wie nichts.“
Vielmehr versuchen sich die Figuren fortwährend mal mehr, mal weniger erfolgreich zu wehren gegen die Verschränkung der Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft. Elsbeth liebt Ernst eben trotzdem, selbst wenn er gerade Schwierigkeiten wegen seiner Nazi-Vergangenheit hat, selbst wenn er in ihr nur seine höchstpersönliche Anne Frank sah. Und er sei wohl ihr Hitler, schreit er sie an, ohne dass sich die beiden deswegen trennen.
Auch in „Ein ganz normales Leben“ ist die Liebe stärker als jede Erinnerung. Der Immobilienmakler Hadi hat seine erste Frau mitsamt Kindern bei einen Bombenanschlag auf dem Münchener Flughafen verloren und nun wieder geheiratet und Kinder bekommen. Er weiß nicht, warum, „die Dinge nehmen ihren Lauf, und er hatte keinen Einfluss auf sie“, und er wird bei einem Schwimmbadbesuch dauernd an seine erste Familie erinnert. Trotzdem ist er am Ende froh, dass ihn ungute Gefühle immer wieder trügen. In „Der echte Liebermann“ wiederum ist es der Tunichgut Henry Halperin, der dem Sog der Vergangenheit zu entkommen versucht. Besessen von der Idee, einen Film zu drehen mit dem Titel „Die Brüder Geduldig“, einer Art jüdischer „Der Pate“ im Nachkriegsdeutschland, verprasst er sein Erbe, dealt mit gefälschten Expressionismus-Gemälden, landet im Gefängnis und räsoniert in einem Brief: „Ich werde wenn ich hier rauskomme nur noch saubere Hände haben.“ Ob ihm das aber gelingt, bleibt zweifelhaft.
Schön ist auch, dass Biller immer einen Subtext mitlaufen lässt: ein Gefühl der latenten Bedrohung in „Ein ganz normales Leben“; die Schuldgefühle des Erzählers in „Der echte Liebermann“, der Henrys Filmidee für eigene, erfolgreiche Bücher ausschlachtet; oder die Unlust eines 15-Jährigen, der lieber einen sexy Film oder Fußball schaut, als sich die Erzählungen seines Onkels anzuhören. Kunstvoll wird hier immer das eine mit dem anderen verwoben, werden wie aus einer Zauberkiste noch und nöcher Geschichten geholt, dabei aber immer einem passgerechten Ende zugeführt: Bewusst Ungesagtes oder Geheimnisse sind Billers Sache nicht.
So könnte man nun weiter schwärmen. Oder darüber spekulieren, dass nach den beiden nicht unbedingt grandiosen Romanen „Die Tochter“ und „Esra“ die literarische Kurzform Biller mehr liegt als die Langstrecke. Oder der „Esra“-Trouble ihn eher bestärkt hat. Man könnte auch sagen: ein tolles Comeback. Ganz sicher aber ist: Das wirklich Letzte, was man über diese Erzählungen wissen will, ist, wie sehr sie autobiografisch eingefärbt sind.
Maxim Biller: „Bernsteintage“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 203 S., 19,90 €