EU verwässert die Chemiepolitik

Lang erwarteter Entwurf für europaweit neues Chemierecht ist da. Versprochen waren mehr Gesundheits- und Umweltschutz. Greenpeace: Von den guten Vorsätzen ist nicht viel übrig. Weiter trägt vor allem der Verbraucher die Lasten, nicht die Industrie

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Greenpeace hat hundert freiwillige Helfer in Großbritannien zum Staubsaugen geschickt. „Wir haben nicht die Branche gewechselt“, versicherte Mark Strutt, Greenpeace-Experte für chemische Substanzen, als er in Brüssel die Ergebnisse der Aktion vorstellte. Den Umweltschützern geht es nicht um Haushaltshilfe, sondern darum, die EU-Chemikalienpolitik zu beeinflussen. Der Hausstaub wurde von unabhängigen Laboren untersucht und ergab „nennenswerte Anteile“ von Alkylphenolen, Phthalatester, bromierten Flammschutzmitteln, Chlorparaffinen und zinnorganischen Verbindungen – Stoffen, die als Krebs erregend oder schädlich für das Immunsystem gelten.

Die Putzkolonne ist nicht zufällig ausgerückt. Die EU-Kommission arbeitet an einem Richtlinienentwurf für das Genehmigungsverfahren chemischer Produkte, der die inzwischen fast 30 Jahre alte Gesetzgebung ersetzen soll. In einem Weißbuch hatten die Brüsseler Experten vor zwei Jahren festgestellt, die derzeit geltende Zulassungsprozedur für chemische Stoffe habe ihr Ziel nicht erreicht, Umwelt und Gesundheit der Bevölkerung wirksam zu schützen. Inzwischen sind die ehrgeizigen Entwürfe durch die Mühle des Brüsseler Lobbysystems gedreht worden. Laut Greenpeace ist in dem vorab durchgesickerten Entwurf von den guten Ansätzen nicht viel übrig.

Gleich drei Schwachpunkte macht die Umweltorganisation aus: Der Kern des Ganzen, das Zulassungsverfahren, sei mittlerweile verwässert worden. Zunächst sei geplant gewesen, Produktanteile, die ein erhöhtes Gesundheitsrisiko darstellen, nur zu genehmigen, wenn noch keine gleichwertigen ungefährlichen Substanzen „verfügbar“ sind. Die Industrie argumentierte erfolgreich gegen diese Klausel, die Produkte würden unter Umständen enorm verteuert.

Ursprünglich sollte auch die Beweislast umgekehrt werden: Die Industrie hätte nachweisen müssen, dass von ihr verwendete Stoffe Umwelt und Gesundheit nicht schaden. Nach dem nun vorliegenden Entwurf hat den schwarzen Peter aber wieder bei den Verbraucherschutzorganisationen. NGOs und Industrie werden so wie bei Weichmachern im Kinderspielzeug um jede Substanz streiten, sagt Jorgo Iwasaki-Riss von Greenpeace.

Drittens kommt nach Ansicht von Greenpeace die Informationspflicht gegenüber dem Verbraucher zu kurz. Tamsin Rose, Generalsekretärin des Europäischen Dachverbands der Gesundheitsorganisationen, schildert: Vor einem Jahr habe sie eine Matratze nach dem Werbeargument „garantiert milbenfrei“ gekauft. Inzwischen wisse sie, was ihr damals keiner sagte: Die Matratze wurde extra mit einer giftigen Substanz getränkt.

1.500 der existierenden 30.000 Chemikalien gehören nach Schätzungen von Greenpeace zu der Stoffgruppe, die nach den neuen Regeln besonders gründlich getestet werden muss. Für Neuzulassungen wird sich die Industrie auf die schärferen Anforderungen einstellen, innerhalb von zwölf Jahren muss sie aber auch alle 30.000 existierenden Stoffe prüfen.

Die Wiesbadener Beraterfirma Arthur D. Little führte im Auftrag des BDI eine Hochrechnung durch und schätzt, dass innerhalb der zwölf Jahre 2,35 Millionen Jobs in den betroffenen Industriezweigen verloren gehen. Andere Experten halten dieses Szenario für unseriös (s. taz vom 1. März 2003). Sie betonen, dass die neue Verordnung die Entwicklung von ungefährlichen Alternativen beschleunigt und Europa damit konkurrenzfähiger wird. Das gilt aber nur, wenn Billigimporte – etwa Textilien und Kunststoffe aus Asien – den gleichen Auflagen unterliegen.