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Archiv-Artikel

Ein richtiger Gänsehaut-Termin

Tag der offenen Tür im niedersächsischen Landtag. 30.000 Besucher, alle Abgeordneten, Minister und sogar Wolfgang Clement sind da. Das Motto „Politik zum Anfassen“ beherzigt aber natürlich nur der Bremer Bürgermeister Henning Scherf

Aus Hannover Kai Schöneberg

Wenn es dunkel wird im Landtag an der Leine und David McAllister drüben bei Sigmar Gabriel noch Licht sieht, greift er auch mal zum Telefon und verabredet ein Date. Die Fraktionsvorsitzenden von CDU und SPD nämlich hacken nicht nur in der Parlamentsarena aufeinander herum, sie können auch – bei aller Härte – menscheln, dass sich die Balken biegen.

„Dürfen sich Politiker streiten?“ hatte der NDR auf seiner Bühne beim dritten Tag der offenen Tür im niedersächsischen Landtag gefragt. Und natürlich erzählte Gabriel artig, dass er sich entschuldigt habe, nachdem er eine „Kampagne“ des damaligen Oppositionschefs Wulff gegen den Ex-Ministerpräsidenten Schröder mit dem Stürmer verglichen hatte – er bejahte das Streiten jedoch ansonsten wie McAllister. Wenn der Wähler wirklich so müde vom politischen aufeinander Einhacken wäre, wäre er an diesem Samstag nicht in 30.000er-Stärke in den Landtag in Hannover gekommen, um viele Abgeordnete, die Ressortchefs und sogar Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) zu besichtigen.

Es war ein schöner, ein heimeliger Tag im ansonsten oft so drögen Parlamentsbetrieb. Wirklich das Motto „Politik zum Anfassen“ löste jedoch mal wieder nur Henning Scherf ein. Der notorische Knuddler aus Bremen drückte, was ihm in die Quere kam – einschließlich SPD-Landeschef Wolfgang Jüttner. Sensorischer ging es kaum. Höchstens für die Besucher, die im Parlamentssaal Gesäße an Abgeordnetenstühle schmiegten. Und vielleicht auch für Ministerpräsident Christian Wulff (CDU), der so vom Volk bedrängt wurde, dass die Bodyguards gestresst wirkten.

Übers Händeschütteln ging es ansonsten nur beim grünen Fraktionsvize Enno Hagenah und Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) hinaus. Bei der „Landespolitischen Herzblattshow“ der Jugendseite der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung hatte von der Leyen richtig ausgepackt: erzählt, ihre „größte Jugendsünde“ sei es gewesen, einst „fast ein Studentenwohnheim abgefackelt“ zu haben, weil sie die Herdplatte unter der Kaffeemaschine angelassen hatte. Dann verglich sie den gertenschlanken McAllister mit einem Hängebauchschwein, weil das „so putzige Tierchen sind“. Und so wählte sie Hagenah zum „Herzblatt“ – und wurde dafür scherfmäßig umarmt. Belohnung: kein Flug mit dem Herzblatt-Hubschrauber, sondern zwei Tassen Kaffee im Leineschloss-Restaurant. Hagenah schaudernd: „Ein richtiger Gänsehaut-Termin.“

Bei der FDP unterhielt sich Fraktionschef Philipp Rösler mit seiner Handpuppe Willi. Außerdem spielten die Liberalen „Drehen am Steuerrad“ und ein „Verordnungsquiz“. Dafür sangen die Grünen die Niedersachsen-Hymne in 36 Sprachen. Vorher war der Fraktionsjüngling Ralf Briese Einrad gefahren und hatte mit drei Bällen jongliert. Und die Noch-Fraktionschefin Rebecca Harms stützte ihren designierten Nachfolger Stefan Wenzel beim Kopfstand. So symbolisch wie sinnfrei kann Politik auch sein.

Irgendwie auch bedeutungsschwanger, dass es bei der SPD neben der Tombola zugunsten der „Tabaluga“-Kinderstiftung von Peter Maffay Bockwurst und Streuselkuchen gab. Geradezu revolutionär hingegen, dass die CDU Äpfel aus dem Alten Land servierte.

Natürlich hatte Wulff hier im proppevollen CDU-Fraktionssaal ein Heimspiel gehabt und alles richtig gemacht. Noch liege „ein langer Weg“ vor dem Land, sagte er, aber zum Sparen gebe es halt „keine Alternative“. Drohend zeigte er auf die Schuldenuhr im Fraktionsraum, die für Niedersachsen gerade auf fast 45 Milliarden Euro schnellte, lobte die „unheimlich vielen tollen Niedersachsen“ und sagte Dinge wie: „Die 96er sind mir neben Michael Schumacher die liebsten Roten im Land.“