fußpflege unter der grasnarbe : Pommes Rot-Weiß Essen
Okay, es ist schwierig, aber stellen wir uns mal vor, wir wären für einen Tag Fan des Fußball-Regionalligisten VfR Neumünster. Und stellen wir uns weiter vor, dass dieser eine Tag kein gewöhnlicher ist, sondern der erste Spieltag nach zweieinhalb Monaten Winterpause.
Es geht nach auswärts. Nach Nordrhein-Westfalen. In den Ruhrpott. Nach Essen. Rot-Weiß putzen! Wochenlang haben wir diesem Tag entgegengefiebert. Auf der vereinseigenen Homepage haben wir gemeinsam die verbleibenden Stunden gezählt. Und nun ist es soweit: Samstagmorgen, sechs Uhr. Im Laternenlicht stehen wir in einem zu engen Trikot aus hundert Prozent Polyester hinter dem städtischen Finanzamt und warten auf den Bus, der uns nach Essen fahren soll.
450 Kilometer und sechs Stunden liegen zwischen Abfahrt und Anpfiff. Es riecht nach Fußballleidenschaft. Erwartungsfroh tippeln wir von einem Bein aufs andere, wie Schulmädchen, die Abzählreime singen. Einer grölt: „Wenn wir ankommen, gibt's Pommes Rot-Weiß Essen.“ Ein anderer mit krebsroter Birne wünscht sich Bier und Stadionwurst dazu. Und eine Toilette an Bord des Busses haben wir auch. Wir sind glücklich.
Ich kann verstehen, warum Menschen, die in Neumünster wohnen, gerne mal was anderes sehen wollen. Selbst wenn sie dafür stundenlange Autofahrten in Kauf nehmen müssen. Bloß mal raus, weg von Pflastersteinen, gelben Wohnblocks und Plattenbauwüsteneien. Ja, es gibt schönere Orte als Neumünster. Niemand würde sich wundern, wenn diese Stadt im Herzen Schleswig-Holsteins von der Landkarte verschwinden würde. Für ihre zeitweilige Flucht scheinen Menschen aus Neumünster daher alles zu tun. Und VfR-Fans fahren sogar nach Essen.
Essen ist ungefähr genauso wie Neumünster. Viele sagen sogar, dass man dort nicht leben, sondern nur einkaufen kann. Auch wenn die Leistungen des gerade erst aufgestiegenen und am Saisonende wieder absteigenden VfR eher Grund zum Weglaufen geben, reisen dem Tabellenletzten trotzdem meist mehr als hundert Getreue hinterher. Wie gesagt, wegen Neumünster eben.
Kurz vor 23 Uhr ist die Flucht vorbei. Hinter dem Finanzamt klettern wir wieder aus dem Bus. Vor 17 Stunden waren wir eingestiegen, für 90 Minuten Fußball. Und nun schwanken wir mit eingerollter Vereinsfahne und den Händen tief in den Hosentaschen nach Hause. Eine blamable 1:5-Klatsche auf den Schultern. Pommes Rot-Weiß Essen hat Hackfleisch Neumünster aus uns gemacht.
Und an dieser Stelle wollen wir die Vorstellung, einen Tag lang Fan des VfR Neumünster zu sein, beenden. War doch gar nicht so schlimm, oder? Doch? Ein Alptraum sogar?
Nicht ganz: Denn das Spiel in Essen wurde abgesagt. Kein nächtliches Aufstehen, keine marternde Busfahrt, kein schmerzhaftes 1:5. Das Leben kann so schön sein, so gerecht, so voller Vorfreude. Der einzige Wehmutstropfen ist und bleibt: Neumünster. Doch die nächste Auswärtsfahrt kommt bestimmt.